Zweiherz
uns einen Kaffee kochen.«
Sie gingen ins Haus, und Kaye umarmte die rundliche Frau in der Küche, die so vertraut nach gutem Maismehl duftete. Thomas war Kayes einziger Onkel und als Kind war sie immer gern bei ihm und ihrer Tante Wilma zu Besuch gewesen. Shannon, die älteste Tochter der beiden, war nur ein Jahr jünger als sie selbst, und sie hatten viel miteinander gespielt. Inzwischen wusste Kaye überhaupt nichts mehr von Shannon.
»Es ist schön, dass du uns mal wieder besuchst, Kaye«, sagte Wilma. »Die Kinder reden viel von dir. Sie haben dich vermisst.«
»Ihr habt euch auch lange nicht mehr auf der Ranch sehen lassen«, bemerkte Kaye, um ihr schlechtes Gewissen loszuwerden.
Wilma warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu.
Thomas sagte: »Es ist im Moment nicht leicht mit deinem Vater. Deshalb sind wir so lange nicht gekommen. Wir hatten das Gefühl, er will uns nicht sehen, und wir wollten uns nicht aufdrängen.«
»Ich weiß.« Kaye seufzte. »Er ist nicht mehr derselbe, seit Mom tot ist.«
Als Sophie noch lebte, war Thomas Totsoni jeden Samstag mit seiner Familie auf der Kingley Ranch zu Besuch gewesen. Er hatte immer gut reden können mit Arthur, dem bilagáana -Mann seiner einzigen Schwester. Über die Arbeit hatten sie gesprochen, die Familie, die Schafe. Aber seit Sophies Tod war Arthur Kingley gereizt und unausgeglichen. Man konnte kaum noch ein vernünftiges Wort mit ihm reden. Kaye wusste das. Und sie ahnte, dass ihr Vater - auch wenn er es nicht offen aussprach - das Volk der Navajo und das Reservat für den Tod seiner Frau verantwortlich machte. Deshalb konnte sie es verstehen, dass die Familie Totsoni darauf wartete, dass Arthur zu ihnen kam und sein Interesse an den Familienbanden bekundete.
Der Nachmittag im Hause Totsoni verging für Kaye wie im Fluge. Sie unterhielt sich mit Shannon, machte ein paar Würfelspiele mit den Jüngeren und erzählte Lisa kleine Geschichten, denen die Vierjährige gerne lauschte. Erst am Abend, als die kleineren Kinder im Bett lagen und Shannon ihrer Mutter in der Küche half, sagte sie leise zu Thomas: »Will Roanhorse ist wieder da, Onkel. Er wurde vorzeitig entlassen.«
Thomas nickte bedächtig: »Ich weiß. Ich habe seine Akte zugeschickt bekommen.«
»Haben sie ihn auf Bewährung rausgelassen?«, fragte Kaye erschrocken. Wurde jemand auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen, bedeutete das die Einhaltung strenger Regeln, sonst kam derjenige so schnell in seine Zelle zurück, dass er nicht mal Zeit hatte zu fragen, was er falsch gemacht hatte. Die Regeln waren hart, und es geschah schnell, dass jemand sie verletzte. Oftmals ohne es zu wissen.
»Nein, Will hat keine Bewährung«, sagte Thomas. »Es ist eben üblich, dass der zuständigen Polizeidienststelle die Akte zugeschickt wird, wenn jemand aus dem Gefängnis entlassen wird.«
»Damit die Polizei ein Auge auf ihn haben kann?«
»So ungefähr.«
»Das ist nicht notwendig, Onkel. Will ist kein Krimineller.«
»Vorschrift ist Vorschrift.«
»Kannst du für mich herausfinden, warum man ihn vorzeitig entlassen hat?«, bat Kaye ihren Onkel. »Will redet nicht mit mir, jedenfalls nicht über seine Zeit im Gefängnis. Ich weiß nicht einmal, was damals wirklich passiert ist.« Traurig fügte sie hinzu: »Mom hat ihn ein paar Mal im Gefängnis besucht. Sie hat es niemandem erzählt, nicht einmal Dad und mir. Vielleicht hat sie gewusst, warum Will das getan hat.«
Ein überraschter Ausdruck trat in die Augen ihres Onkels, verschwand aber sofort wieder. »Ich weiß, warum Will vorzeitig entlassen wurde. Ich sollte es dir zwar nicht sagen, aber schließlich bist du meine einzige Nichte. Du weißt, dass du mit niemandem darüber reden darfst, sonst bekomme ich höllischen Ärger.«
»Ich mache dir keinen Ärger.« Kayes Stimme zitterte. Sie wusste, dass sie ihren Onkel nicht drängen durfte. Wenn er reden wollte, würde er das irgendwann tun.
Einen Moment lang herrschte angespannte Stille.
»Will ist damals wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt worden«, sagte Thomas schließlich, »deshalb das hohe Strafmaß. Mord an einem Staatsbeamten gilt als Staatsverbrechen. Aus diesen beiden Gründen bekam Will zehn Jahre, obwohl er damals erst vierzehn war. Aber jetzt haben sie das Urteil plötzlich in Totschlag umgewandelt und ihm den Rest der Strafe erlassen. Mich wundert selbst, dass er keine Bewährung bekommen hat, aber es ist ein gutes Zeichen. Will hat seine Strafe abgesessen. Er ist ein
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