Zweiherz
Ölbaumblätter und die lila Blütenrispen der Tamarisken leuchteten im Kontrast zur roten, gelben und ockerfarbenen Erde. Der Canyon war Roanhorse Land, sein Land. Nicht im Sinne von Besitz, denn etwas Lebendiges konnte man nicht besitzen. Aber solange er lebte, solange Schafe auf diesem Land weideten, würde niemand ihn von hier vertreiben können. »Gib dieses Land niemals auf!«, hatte sein Vater wiederholt zu ihm gesagt. »Bearbeite es, nutze es, halte es für dich fest! Lass nicht zu, dass sie es dir nehmen. Das Land ist dein Schicksal.«
Diese Worte hatte Will immer in seinem Inneren bewahrt. Auch dann noch, als sein Vater ihn auf diese Schule in New Mexiko schickte. Will wusste bis heute nicht, was John dazu veranlasst hatte, diesen plötzlichen Entschluss zu fassen, der so gar nicht mit all jenen Dingen zusammenpasste, die er seinen Sohn gelehrt hatte.
Großvater Sam wollte nicht, dass Will auf diese Schule ging. Aber John setzte sich durch. Begründet hatte er seinen Entschluss stets damit, dass sein Sohn einmal beide Welten kennenlernen sollte.
Und so hatte Will sie kennengelernt, die weiße Welt. Bei dem Gedanken an seine Internatszeit spürte er plötzlich ein Brennen in der Brust. Der Magen drehte sich ihm um und der widerliche Geschmack war wieder da. Er atmete heftig. Schluckte, um den Brechreiz loszuwerden. Es war Jahre her, aber er konnte das schreckliche Gefühl, das manchmal unerwartet auftauchte, nicht loswerden.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Aquilar, der unbemerkt neben ihn getreten war.
»Ja, alles in Ordnung«, stieß Will hervor und drehte sich weg. »Gehen wir zurück. Ich habe Großvater Sam versprochen, dass ich uns was koche. Du bist eingeladen.«
Kayes roter Jeep parkte im Schatten der Pappeln, als die beiden jungen Indianer über die Wiese zum Haus gelaufen kamen. Aquilars Pinto, ein hübscher Quarter Horse Schecke, begrüßte ihn freudig tänzelnd und schnaubend. Aquilar klopfte dem Pferd liebevoll den Hals und sagte ein paar zärtliche Worte. Jemand hatte dem Tier frisches Wasser und Hafer gegeben.
Kaye stand in der Küche und hantierte am Herd. Sie sah die jungen Männer kommen und holte zwei weitere Teller aus dem Schrank. Ihr Hintern und ihre Oberschenkelmuskeln taten bei jeder Bewegung weh. Für den morgendlichen Ritt durch den Canyon de Chelly hatten Teena und sie drei Stunden gebraucht. So lange auf einem Pferderücken unterwegs zu sein, war sie nicht mehr gewöhnt.
Als Kaye in der Mittagszeit zu Hause angekommen war, hatte sie einen Zettel ihres Vaters vorgefunden, auf dem stand, dass er nach Gallup gefahren war. Sie hatte noch einmal gefüllte Paprikaschoten vorbereitet, das ging schnell, weil sie die Fleischfüllung schon fertig vorbereitet in der Tiefkühltruhe aufbewahrte. Nun garten die Paprika in der Röhre und Kaye buk Maisfladen in der Pfanne.
»Yá’át’ééh« , begrüßte sie die Ankömmlinge. »Setzt euch, es ist genug für alle da.«
»Yá’át’ééh« , sagte Will, der über ihre Anwesenheit froh zu sein schien, was sie wunderte. »Das ist Aquilar Yazzie vom Enge-Schlucht-Clan«, stellte er seinen Begleiter vor. »Aquilar, das ist Kaye Kingley, sie sorgt für unser Sonntagsessen auf Rädern.«
Aquilar schnupperte genüsslich. »Wenn es so gut schmeckt, wie es riecht, dann überlege ich mir, ob ich den Service auch in Anspruch nehme.«
Kaye lachte und reichte Aquilar die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.«
Sie setzten sich zu Großvater Sam an den Tisch, und Will erzählte vom Zustand des Sommerhogans und von seinem Vorhaben, ihn mit Aquilars Hilfe reparieren zu wollen. Kaye war froh über dieses ungezwungene Gespräch. Sie erkundigte sich nach dem Umfang des Schadens und ob noch weitere helfende Hände gebraucht würden.
»Nein, das ist nicht nötig, wir kommen schon zurecht«, sagte Will und musterte sie nachdenklich. »Da waren Spuren von einem Jeep im Canyon. Ich dachte, du wärst das gewesen.«
»Ich war nicht im Canyon«, bemerkte Kaye. »Vermutlich hat irgendeiner von diesen Magazinfotografen herausgefunden, dass es dort alte Felszeichnungen gibt, und ist mit seiner riesigen Kamera dort herumgestolpert.« Sie war lange nicht dort gewesen, erinnerte sich aber noch sehr gut an die großen Figuren in der dunklen Patina des Felsens. Sie waren mindestens schon tausend Jahre alt und außer Großvater Sam, Will und ihr selbst wusste kaum jemand überhaupt von ihrer Existenz.
Früher war sie oft mit Will dort in der Schlucht
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