Zweiherz
anzunehmen.«
Will zögerte immer noch.
»Soll ich es für dich herausholen?«, bot Aquilar ihm an. »Was immer es auch ist, es interessiert mich nicht.«
»Nein«, erwiderte Will schnell. »Ich mache das schon selbst.« Er legte sich flach auf den Vorsprung, schloss die Augen und steckte seine rechte Hand in den Felsspalt. Seine Finger tasteten die Höhlung ab. Er rechnete damit, dass sich jeden Moment zwei giftige Zähne in seinen Handrücken bohren würden.
Ein Schatten fiel auf seine Wange.
Will öffnete kurz die Augen. Er sah Aquilar vor sich stehen, einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Will ächzte leise. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Großvater Sam hatte immer gesagt, es kommt darauf an, wo sie dich beißen. Aber Will hatte vergessen, wie gefährlich ein Biss in den Finger war. Vermutlich würde Aquilar ihm die ganze Hand abhacken müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Will seufzte bei diesem schrecklichen Gedanken.
Schließlich fanden seine tastenden Finger, was sie suchten. Er umklammerte den Lederbeutel und zog ihn aus dem Spalt. Erleichtert hockte Will sich auf den Fels und klopfte Sand vom Beutel. Mit dem Handballen fuhr er sich über die feuchte Stirn.
» Ahé’ee , danke«, sagte er zu dem Jungen, der ihn immer noch beobachtete. » Liebe Schlange ... das war ziemlich cool. Von wem hast du das gelernt?« Er steckte den Beutel in seinen Rucksack.
»Von meinem Vater. Er ist ein hataalíí .« Aquilar Yazzie stammte aus einer Familie von sehr traditionell eingestellten Leuten, dem Aá’tro’sni - Enge-Schlucht-Clan. Sein Vater Josef war ein hataalíí , ein Sänger und Heiler wie Großvater Sam. Aquilar war navajo erzogen worden. Deswegen würde er Will nicht fragen, was sich in dem Lederbeutel befand, denn Neugier war für einen Navajo ein Zeichen von Schwäche.
»Kannst du mir den Trick mit der Schlange beibringen?«, fragte Will.
Aquilar hob die Schultern. »Du musst nur das Lied lernen. Wir mögen Schlangen zwar nicht besonders, aber unsere Feinde sind sie nicht. Wir haben andere, viel gefährlichere Feinde. Gegen die hilft aller Gesang nichts.«
»Wie meinst du das?« Will rappelte sich wieder auf die Beine. »Was haben wir für Feinde? Die Apachen vielleicht?« Er lachte halbherzig. Einst waren Navajos und Apachen ein Volk gewesen und gemeinsam aus dem Norden gekommen. Später wurden sie zu Feinden und bekriegten sich eine Zeit lang. Apachu war Navajo und bedeutete: Feind.
»Das Gleichgewicht ist gestört«, sagte Aquilar. »Das Land ist unglücklich und viele vom Volk sind es auch. Aber die Fehler werden von den Menschen gemacht, nicht vom Land.«
»Was ist schiefgelaufen?« Will wollte es genau wissen.
»Eine Menge.«
»Wirst du es mir erzählen?«
»Wenn es dich interessiert?«
Will nickte. »Es interessiert mich. Ich war lange weg und vieles hat sich verändert. Ich könnte ein bisschen Nachhilfeunterricht gebrauchen.«
»Shoo.« Aquilar nickte. »Ich verstehe.«
»Eigentlich bin ich hergekommen, um nachzusehen, was aus dem Sommerhogan meines Großvaters geworden ist«, sagte Will. »Wenn du Lust hast, dann komm doch mit.«
»Ist es weit?«
»Wir müssen durch einen Slot-Canyon und dann hoch auf die Mesa.«
»Ich bin dabei«, sagte Aquilar.
Will lief voran und der Junge begann zu erzählen. Von riesigen Kohleschaufeln, die das Land fraßen, von Chemikalien, die das Wasser vergifteten, von strahlenden Abraumhalden, die Menschen an Krebs erkranken ließen. All das war Will nicht neu, mit diesen Problemen hatte sein Volk schon zu kämpfen gehabt, bevor er das Reservat verlassen hatte. Neu war, dass es inzwischen so viele Jugendgangs im Big Res gab, dass man sie nicht mehr an den Fingern zweier Hände abzählen konnte. Sie berauschten sich mit Ocean Water und schlimmer noch, mit synthetischen Drogen, die ganz leicht aus einem Grippemittel gewonnen werden konnten.
»Es gibt nichts zu tun für die Kids«, sagte Aquilar. »Niemand akzeptiert sie. Also holen sie sich ihren Kick mithilfe von Alkohol oder Drogen, und um an beides zu kommen, schrecken sie sogar vor Mord nicht zurück.«
Als Aquilar das sagte, zuckte Will zusammen. Er blieb stehen und drehte sich um. Verunsichert blickte er Aquilar ins Gesicht, der nun ebenfalls stehen blieb.
»Schon gut, Will«, sagte der Junge. »Ich weiß, warum du im Gefängnis gesessen hast. Und ich weiß auch, dass du niemanden umbringen wolltest. Wenn ich ein Problem damit hätte, wäre ich nicht hier.«
Erleichtert
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