Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
genauso gut werden, wie du es bist und wie mein Vater es war. Aber morgen«, sagte Will, »morgen werde ich zuerst anfangen, den Hogan auszubessern. Und dann bringe ich dich zu einem Arzt.«
    Unmerklich schüttelte Sam den Kopf. Was sollte ein alter Mann wie er bei einem Arzt? Er war bereits bei einem Medizinmann gewesen, einem Navajo-Heiler, und hatte um eine Zeremonie gebeten. Doch die Gesänge des Mannes hatten nichts genutzt. Der Schleier vor seinen Augen wurde immer dichter. Er war eben ein alter Mann und manche Dinge ließen sich nicht aufhalten.

    Als Will schon im Bett lag, klopfte es plötzlich leise an seiner Tür. Er knipste das Licht an und richtete sich auf. »Ich bin noch wach, Granpa. Komm nur rein!«
    Der alte Mann schlurfte ins Zimmer und reichte ihm einen abgegriffenen, ungeöffneten Brief. »Er ist von deinem Vater, Will, und er ist für dich. John hat ihn in jener Nacht geschrieben, in der er zum Berg ging und nicht zurückkehrte.«
    Will erkannte die vertraute Handschrift seines Vaters und ein eisiger Knoten bildete sich in seiner Magengrube. Darauf war er nicht vorbereitet.
    Sam setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Damals, in jener Nacht, hatte ich einen schlimmen Traum und wachte voller unguter Ahnungen auf. Das Bett deines Vaters war leer, als ich ihn zum Frühstück wecken wollte. Ich fand nur diesen Brief. Da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert war. Ich bin losgegangen, folgte seinen Spuren durch den Canyon und dann habe ich ihn gefunden, dort oben auf dem Pfad.«
    Will begriff, dass sein Vater an alles gedacht hatte. Er hatte sich weit genug vom Haus entfernt, damit sein ch’iindi , sein Totengeist, nicht ins Haus zurückkehren konnte. Und er hatte seinem Leben dort ein Ende gesetzt, wo sein Vater ihn finden musste.
    »Er war mein einziger Sohn«, fuhr der alte Mann fort, »und es fiel mir schwer zu akzeptieren, dass er diesen Weg gewählt hatte. Ich habe seinen Brief für dich aufbewahrt. Und ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, ihn dir zu geben. Vielleicht hilft er dir, einige der Fragen zu beantworten, die du mit Sicherheit hast.«
    »Granpa«, sagte Will, »warum ist Dad zur Armee gegangen? Und warum hat er mich auf diese Schule geschickt?«
    »Weil er sich geschämt hat«, sagte Sam.
    »Geschämt? Wofür?«
    »Er hat etwas getan, das nicht recht war. Und er wollte nicht, dass du es erfährst und ihn dafür verachtest.«
    »Was hat er bloß getan, das so furchtbar war?«
    »Er hat geliebt.«
    Ungläubig starrte Will seinen Großvater an. »Aber das ist doch kein Verbrechen.«
    »Nein. Aber dein Vater liebte eine verheiratete Frau.«
    Will schluckte. »Das wusste ich nicht.«
    »Wie auch? Du warst noch ein Kind, und er tat alles, um es vor dir zu verbergen. Er litt furchtbar, Will. Du musst ihm verzeihen.«
    »Ich kann nicht, Granpa, ich kann nicht. Ich hätte ihn so sehr gebraucht. Stattdessen hat er mich fortgeschickt.«
    Der Alte musterte seinen Enkel, seine Augen waren voller Liebe und Wärme. Doch sein Blick war auch schwer von einem Wissen über etwas, das nie zwischen ihnen ausgesprochen worden war. »Dein Vater war kein schlechter Mensch, Will. Er war ungeheuer mutig, aber er war nicht stark. Als er die Frau, die er liebte, nicht haben konnte, verließ ihn sein Mut.«
    Will sah seinen Großvater an. »Was er getan hat, war feige, Granpa. Gäbe es dich nicht, wäre ich jetzt ganz allein auf der Welt.«
    Sam Roanhorse lächelte. »Und was ist mit dem Mädchen? Denkst du, sie kommt nur, um einem alten Mann das Essen zu bringen? Du bist nicht sehr freundlich zu ihr, und ich frage mich, warum. Jemand, der einsam ist, kann es sich nicht leisten, unfreundlich zu sein.«
    Will wusste, dass sein Großvater recht hatte, aber das konnte er nicht zugeben. Er konnte mit ihm auch nicht über Kaye reden. Das ging einfach nicht. Damit musste er allein fertig werden.
    » Ahééh , Granpa. Danke, dass du für mich da bist«, sagte er.
    Der Alte verstand. Will wollte jetzt allein sein, um den Brief seines Vaters zu lesen. Sam erhob sich und verließ das Zimmer.

    Im Raum war die Luft stickig und eng. Mit einem Mal schien Will das Atmen unerträglich mühsam. Der Brief in seiner Hand wog schwer wie ein Stein. Er zog sich ein T-Shirt über und kletterte aus dem offenen Fenster.
    Eine Navajo-Weisheit besagt, dass jemand, der aus dem Fenster eines Hauses steigt, anstatt die Tür zu benutzen, ein Loch im Herzen davonträgt. Wills Herz fühlte sich schon lange wie ein einziges Loch an.

Weitere Kostenlose Bücher