Zweiherz
entstellt, auch wenn niemand es sehen konnte. Und nun war der Kojote hinter ihm her. In den Geschichten seines Volkes war der Vierbeiner Fiesling und Held in einem, schlau und verschlagen zugleich. Vor allem aber war er unberechenbar. Er half den Menschen, oder er vernichtete sie, je nachdem, wie es ihm beliebte.
Plötzlich war Will klar, dass Zweiherz es auf ihn abgesehen hatte. Durch irgendetwas hatte er den alten Unruhestifter auf sich aufmerksam gemacht. Seufzend wälzte er sich im Bett herum. Warm und dumpf lastete die Hitze der Nacht auf seinen Gedanken. Verlassenheit strömte herein und füllte das ganze Zimmer. Sehnsucht und Verlangen plagten ihn. Und Angst.
Von Geistern und Dämonen getrieben, knipste Will seine Nachttischlampe wieder an und holte den gelben Schuhkarton unter seinem Bett hervor. Er löste die Schnur, öffnete den Deckel und holte die Fotos heraus. Will suchte und fand das Foto, das ihn mit Kaye zeigte. Er spickte es mit einer Reißzwecke an die Wand über seinem Bett und betrachtete es lange. Schließlich griff er erneut in den Karton und holte ein Bündel Briefe heraus. Den untersten zog er hervor und strich mit den Fingern über das hellblaue Papier.
Will ging zum Fenster, hinter dem alles schwarz war. Eine Weile stand er so, allein mit seinem geisterhaften Spiegelbild in der Scheibe, und starrte hinaus. Dann schob er das Fenster ein Stück auf und ließ die kühle, nach Salbei duftende Nachtluft herein.
Will setzte sich auf sein Bett und öffnete den ersten Brief mit dem Messer. Herzklopfend las er die kindliche Schrift der zwölfjährigen Kaye.
Mein lieber Will,
ich bin sehr traurig über das, was passiert ist. Mom sagt, du hättest nichts Schlimmes getan und würdest bald wieder zu uns zurückkommen. Ich bin dir auch nicht mehr böse, dass du mich allein im Canyon zurückgelassen hast. Es war gar nicht so schwer, den Weg nach Hause zu finden. Nur zwischen den engen Felswänden hatte ich ein bisschen Angst. Es war so dunkel und kalt da unten und der Wind machte unheimliche Geräusche. Der Himmel war sehr weit oben. Kannst du, wo du jetzt bist, den Himmel sehen?
Ich vermisse dich, Will. Jazz fehlst du auch.
Deine Freundin Kaye
»Kannst du das für mich verkaufen?«, fragte Will und schob mehrere Schmuckstücke, die er aus einem alten Lederbeutel geholt hatte, mit beiden Händen über den gläsernen Ladentisch.
Kaye brachte immer noch kein Wort heraus, so überrascht war sie von seinem unerwarteten Auftauchen in ihrem Laden. Sie wusste, dass sie einen roten Kopf bekommen hatte, und ärgerte sich darüber. Verlegen heftete sie ihren Blick auf Wills braune Hände, die den Schmuck nur zögernd freigaben. Darauf bedacht, seine Finger nicht zu berühren, nahm sie eine Brosche, hielt sie ins Licht und betrachtete sie genau. Das Silber war dunkel angelaufen, doch das ließ sich leicht beheben, sie besaß einige wirksame Mittel zur Reinigung. Die Brosche hatte einen daumennagelgroßen tiefblauen Türkis in der Mitte und war wunderschön. Vor allem aber war sie alt.
Kaye begutachtete nach und nach auch die anderen Stücke: zwei Ketten, mehrere Ohrgehänge und drei breite Armreifen. Sogar eine sehr schöne Kürbisblütenkette war dabei. Die meisten Arbeiten hatten wenige Türkise, waren sehr sauber getrieben und hatten spezielle Muster. Kaye kannte sich inzwischen gut aus in der Beurteilung von Silberschmuck. Der alte Sam Roanhorse war ihr ein geduldiger Lehrer gewesen.
Von ihm hatte sie auch erfahren, dass die Navajos das Verarbeiten von Silber zu Schmuck einst von den Mexikanern gelernt hatten. Das war inzwischen 150 Jahre her. Atsini Sani , Alter Schmied, hieß der erste Navajo-Silberschmied, der sein Können an seine Söhne weitergab, die wiederum ihre Söhne darin unterwiesen. Damals wurden zur Schmuckherstellung noch alte Silbermünzen verwendet, heute konnte man Silberblech und geschliffene Steine fertig kaufen, was die Arbeit wesentlich erleichterte. Auch die Werkzeuge waren inzwischen andere, was eine Verfeinerung der Techniken ermöglichte. Wer ein bisschen Ahnung hatte, konnte gut erkennen, ob Schmuck alt war oder aus der neueren Zeit stammte.
Die Stücke, die Will ihr da gebracht hatte, waren sehr alt und deshalb kostbar. Allein die Kürbisblütenkette schien Kaye mindestens zweitausend Dollar wert.
»Woher hast du die?«, wollte sie wissen, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
Will stützte sich mit beiden Händen auf den Ladentisch. »Das geht dich überhaupt
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