Zweiherz
damals seine aufgeschlagenen mageren Knie begutachtet. Bei dem Gedanken an ihr klägliches Gesicht musste er lächeln. Kaye war damals noch nicht einmal elf Jahre alt, aber schon furchtbar eifersüchtig gewesen.
Will fragte sich, wie es heute um sie beide stehen würde, wenn zwischen ihrer Mutter und seinem Vater keine Liebe entstanden wäre. Wenn John nicht zur Armee gegangen wäre und er Will nicht ins Internat geschickt hätte. Wenn John sich nicht getötet hätte und Kayes Mutter nicht in ihrem Wagen verunglückt wäre. Wenn, wenn, wenn. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn all diese Dinge waren geschehen. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Er stand mit leeren Händen da und mit einem Herzen voller Angst und Scham.
Kaye drehte den Wasserhahn zu und drückte Will ein duftend weiches Handtuch in die Hand. »Hier. Ich werde versuchen, etwas zum Anziehen für dich zu finden.«
Als sie nach einer halben Stunde an die Badezimmertür klopfte und ihm ein kariertes Hemd und eine Jeans von ihrem Vater brachte, stand er mit dem Handtuch um die Hüften vor dem Fenster und starrte in den Hof hinunter. Wasser perlte aus seinen langen Haaren und rann über einen blutigen Riss unter seinem linken Schulterblatt.
»Du bist ja doch verletzt«, bemerkte Kaye erschrocken.
»Es ist nur ein Kratzer«, erwiderte Will. Es war nicht der einzige. Bei seiner Rutschpartie nach unten hatte er sich mehrere blaue Flecke und verschieden große Schürfwunden zugezogen. Die Fingerknöchel seiner rechten Hand waren blutig geschrammt und auch beide Ellenbogen. Unerhebliche Verletzungen im Gegensatz zu dem, was Aquilar abbekommen hatte. Beim Gedanken an seinen Freund fühlte er eine knotige Wut in seinem Bauch.
»Du kannst die Wunde ja gar nicht sehen oder hast du etwa hinten auch Augen im Kopf?«, fragte Kaye ungehalten.
»In diesem Raum gibt es drei Spiegel«, sagte Will. »Außerdem tut es gar nicht weh.«
Sie war hinter ihn getreten und berührte vorsichtig mit der Fingerkuppe das geschwollene Fleisch über dem Riss. Er zuckte zusammen, ein heiseres Knurren kam aus seiner Kehle.
»Tut gar nicht weh«, machte sie ihn spöttisch nach.
»Hat auch keiner gesagt, dass du mit den Fingern draufrumdrücken sollst.«
Kaye öffnete den Spiegelschrank und nahm eine kleine Dose heraus.
»Was ist das?«, fragte er misstrauisch.
»Keine Angst, nur eine Wundsalbe. Das Rezept ist von meiner Mutter, und ich glaube, sie hat es von deinem Großvater. Es wird die Schwellung zurückgehen lassen und die Heilung beschleunigen. Ich glaube, das Zeug ist sogar rituell besungen worden.«
Will nahm ihr die Dose aus der Hand und roch an dem Inhalt mit der undefinierbar graugelben Farbe. »Also gut«, sagte er schließlich und gab ihr die Dose zurück.
Kaye schob ihm das nasse Haar über die Schulter nach vorn und bestrich seine Verletzungen mit Salbe. Ihre Berührungen verursachten ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend. Es war lächerlich, aber er genoss es, dass sie sich Sorgen um ihn und seine Gesundheit machte. Wenn er nicht solche schreckliche Angst um Aquilar haben müsste, diese Kratzer wären es ihm wert gewesen.
Kaye musterte Wills kräftigen, geraden Rücken und sagte: »Irgendwie bist du ganz schön gewachsen, seit du das letzte Mal in diesem Badezimmer verarztet worden bist.« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel und Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Du aber auch«, erwiderte er und wandte sich um, die Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln hochgezogen.
»Mir gefällt, was ich sehe«, sagte sie keck. »Du dagegen scheinst enttäuscht zu sein.« Rasch senkte sie den Blick.
Sie ist ein unwiderstehliches Mädchen, dachte Will. Diese Mischung aus Kühnheit und Zurückhaltung. Ich bin ihr nicht gewachsen. »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Und jetzt verschwinde, ich will mich anziehen!«
Es gefiel Will nicht, Arthur Kingleys Sachen zu tragen, aber im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig. Natürlich passten sie nicht. Die Jeans waren zu kurz und um die Hüfte ein ganzes Stück zu weit. Aber Kaye hatte ihm vorsorglich einen Gürtel mitgebracht. Das rote T-Shirt schlackerte an ihm herum wie eine Signalflagge.
Arthur schlief zum Glück noch, als Kaye für Will und sich einen starken Kaffee kochte und ein kräftiges Frühstück zubereitete. Rührei mit Speck und aufgebackenem Maisbrot. Es duftete verführerisch und Wills Lebensgeister kehrten zurück.
Es tat gut, in Kayes Küche zu sitzen und sich von ihr umsorgen zu lassen.
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