Zweilicht
Das heißt, Wendigo ist auf dem Weg hierher.«
Teil VI – todesweiß
blizzard
d er Schneesturm nahm ihnen schon nach wenigen Minuten die Sicht, aber Ivy lotste sie mit der Sicherheit des Tricksters über Pfade und durch Ruinenschluchten. Einmal bildete Jay sich kurz ein, im wirbelnden Weiß einen Schatten zu sehen, aber für einen Kojoten war er zu klein. Vielleicht eine Katze , dachte er, die ebenfalls nach einem Unterschlupf sucht . An einer windstillen Stelle ließ Ivy Jays Hand los, zerrte an vertrockneten Brombeerzweigen und schaufelte Schnee beiseite. »Hier ist ein Notlager. Wir haben einige davon in der Stadt. Für den Fall, dass einer von uns sich ein, zwei Tage lang verstecken muss. Hilf mir, räum die Steinplatte zur Seite!« Seine Finger waren klamm vor Kälte. Mit einem Ruck wuchtete er die Marmorplatte beiseite und stand vor einem knietiefen Durchgang. Er sah aus, als sei er ins Mauerwerk gesprengt worden. Ivy kroch voraus und er folgte ihr, ohne zu zögern, in die Schwärze.
In der dichten Stille im Inneren des Hauses erschien es plötzlich warm. Die Steintreppen waren gesprungen von unzähligen Wintern, in denen Eiseskälte die Feuchtigkeit in Ritzen und Fugen hatte gefrieren lassen. Jay schloss die Augen und folgte Ivys Atem, dem Zug ihrer Hand. Es gab nur den dumpfen Hall ihrer Schritte und das Knirschen von Steinbrocken unter seinen Sohlen. Schwärze hüllte ihn ein wie ein zu enger Mantel, ganz fern erahnte er noch das Fauchen des Blizzards.
Plötzlich hörte die Treppe auf. Ivy zog ihn nach unten und er ertastete eine Lagerstätte, die mit Decken ausgelegt war. Raschelnd machte sich Ivy an etwas zu schaffen. Es klang, als würde sie in Plastiktüten herumwühlen. »Wenn wir es über den Fluss schaffen, haben wir vielleicht noch eine Chance.«
»Und wenn nicht?«
»Spürt er uns auf«, erwiderte sie mit harter Stimme, die ihre Angst nur schlecht verbarg. »Wenn die Wächter uns nicht schon vor ihm finden«, fügte sie hinzu. »Das Gebiet hier ist kaum gesichert und in der Nacht sind sie stärker als ich. Ich kann nur hoffen, dass die Tarnung ausreicht und dass sie unsere Spur im Schnee verloren haben.«
»Aidan und das Mondmädchen werden uns nichts tun.«
Ein verächtliches Schnauben war die Antwort. »Ich traue ihnen kein Stück über den Weg. Hier!« Sie drückte ihm etwas in die Hand. Es fühlte sich an wie ein Stück Brot und roch nach Früchten. Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war. »Und da sind auch Messer.« Ivy sprach hastig, und es irritierte ihn, dass sie wieder ganz der sachliche Trickster war. »Außerdem Seile und ein paar Wasserflaschen. Wir müssen hier wieder weg, sobald der Schneesturm etwas nachgelassen hat. Es ist riskant, aber wir haben keine Wahl mehr. Wo liegt dein Kanu?«
»An der Brooklyn Bridge.«
»Gut, dann ist es näher als meines.«
»Du bist wütend auf mich, weil ich sie beschützt habe.«
Das Rascheln hörte abrupt auf. Sie atmete mit einem Seufzen aus, und er konnte sich nur vorstellen, dass sie in sich zusammensank. »Ich weiß nicht, was ich sein soll«, brach es aus ihr heraus. »Ich bin wütend auf dich und gleichzeitig laufe ich dir nach. Da, wo du dich verschließen müsstest, öffnest du dein Herz, als hättest du wirklich nichts zu verlieren. Gestern küsst du mich und heute läufst du weg. Du vertraust ihr – aber du bist nicht unter ihrem Bann. Du hast sie geliebt, auf eine Art, aber mir sagst du deinen Namen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Sie schluckte und fügte kaum hörbar hinzu. »Aber das Schlimme ist, dass ich nicht mehr weiß, was ich von mir halten soll. Faye wollte mich nicht gehen lassen – ich musste weglaufen. Ich laufe vor meinem Clan davon, für einen Träumer!«
»Ich träume nicht mehr, Ivy.«
Sie zuckte zurück, als er im Dunkeln ihre Hand fand. Aber als er sie zu sich zog, ließ sie sich in seine Umarmung fallen, rückte so nah an ihn heran, dass er ihren Duft wahrnahm, ihre weiche Haut und den Wimpernschlag an seiner Wange. Sie vergrub die Nase an seinem Hals, und es war verrückt, dass er trotz allem einfach nur glücklich war. Er wusste, er sollte sich fürchten, aber hier, in einem geheimen Raum, der nur ihnen gehörte, war sogar die Angst so unwirklich wie ein Traum. Auf den Decken war es ein wenig wärmer geworden, die Taubheit wich aus seinen Beinen. Er nahm Ivys Hände und rieb sie, hauchte darauf, dann schob er sie unter die Daunenjacke, die er aus seinem alten Zimmer in Matts Haus
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