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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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fielen ihm wieder ein: eine Menge Spinner in New York. Was, wenn sie tatsächlich so etwas wie eine Stalkerin war? »Du … kommst wohl nicht aus New York«, fuhr er vorsichtig fort. »Du sprichst komisch.«
    »Du auch.«
    »Englisch ist nicht meine Muttersprache, was hast du für eine Entschuldigung?«
    »Ich mag es einfach, dich zu verwirren«, erwiderte sie mit einem leisen Lachen.
    Beiläufig verlagerte sie ihr Gewicht. Während er sich krampfhaft festhalten musste, um nicht abzurutschen, ließ sie einfach los und balancierte nur auf den Fußballen auf dem schmalen Ast wie ein Seiltänzer, die Ellbogen locker auf die Knie gestützt. Vielleicht gehört sie ja zu einer Parkour-Gruppe , dachte er. Zu den Sportlern, die in der Großstadt über Hochhausschluchten sprangen und an Brücken und Mauern hochkletterten. Offenbar war sein Verstand immer noch verzweifelt auf der Suche nach einer logischen Erklärung.
    Sie zuckte zusammen, als hätte ein Geräusch sie aufgeschreckt. Jay lauschte ebenfalls, aber er konnte nur ein Motorrad hören, das irgendwo jenseits der Parkmauer die Straße entlangbrauste.
    »Ich kann nicht bleiben«, raunte Ivy ihm zu. »Sie sind mir vermutlich längst auf der Spur. Also hör jetzt genau zu: Du bist in Gefahr. Bald fällt Schnee, dann kommt Wendigo zurück. Er wird dich töten. Ich kann dir helfen. Aber dafür musst du mit mir nach Mannahatta gehen – jetzt sofort!«
    Plötzlich war sie ihm zu nah, und auch alles andere strömte auf ihn ein und drohte ihn mitzureißen. Gefahr, Wendigo, töten . Vor allem Wendigo versetzte ihm einen Schock des Wiedererkennens. Wenn Wendigo über die Seele siegt. Das waren die Worte, die sein Vater auf eine der Postkarten geschrieben hatte.
    »Wir müssen zur großen Torbrücke, die Zeit läuft uns davon!« Sie streckte die Hand nach ihm aus und wollte sein Handgelenk umfassen.
    »Nein!« Er zuckte zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Sein Anhänger löste sich von der Schulter, wo er sich wohl bei der Kletteraktion vorhin im Stoff verhakt hatte, und glitt an der Kette entlang zurück auf seine Brust.
    Ivys Augen wurden groß. »Zweiherz!«
    Jay zuckte zusammen. »Du kennst ihn?« Es rutschte ihm einfach so heraus. Im selben Moment wurde ihm klar, dass es völlig absurd war. Sie konnte seinen Vater nicht kennen – und Zweiherz war der Indianername für einen Kojoten. Aber plötzlich fanden sich die Bruchstücke zu einem ganz neuen Bild zusammen: Sein Vater, der mit seinen roten Haaren in seinem Pseudo-Indianeroutfit ebenso wenig authentisch wirkte wie das hellblonde Mädchen hier. Was, wenn es doch möglich ist? Vielleicht gab es ja mehr von diesen Leuten in New York, vielleicht hatte er zu einer Art Gruppe gehört? Vielleicht war das die Erklärung …
    »Natürlich, ich kenne ihn gut«, flüsterte das Mädchen. »Jeden Tag treffe ich ihn in Mannahatta.«
    Er wusste nicht, was schlimmer war, die kurz aufflackernde Hoffnung oder die Enttäuschung darüber, dass er wieder einmal auf seine eigene Sehnsucht hereingefallen war.
    »Komm mit!« Sie griff nach ihm, doch er schlug ihre Hand weg.
    Die kurze Berührung war wie ein Griff in ein elektrisches Feld. Alles in ihm schrie, dass er laufen sollte. Laufen, so schnell er konnte.
    »Okay, das reicht!«, fuhr er das Mädchen an. »Bleib mir vom Leib oder du hast die Polizei am Hals, klar?«
    Er hangelte sich vom Baum und sprang. Mit einem harten Aufprall kam er unten an und federte sofort wieder hoch. Er machte sich schon darauf gefasst, dass sie gleich neben ihm landen würde, aber als er nach oben blickte, war der Ast, auf dem sie vor fünf Sekunden noch gesessen hatte, leer.
    Es war eine interessante, aber keine überraschende Erkenntnis: Verrücktsein fühlte sich nicht gut an. Mit weichen Knien wich er zurück.
    Jetzt erst merkte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Feathers verharrte reglos ein paar Meter entfernt und beobachtete ihn. Dann fegte er davon, als sei er auf der Flucht. Jay war erleichtert, ihm einfach folgen zu können. Hinter dem Hund jagte er zum Parkplatz. Erst als seine Sohlen auf Asphalt schlugen und er an der großen Straße stand, fühlte er sich wieder sicherer. Das Licht der Ampeln war beruhigend, und sogar der Verkehr, der an ihm vorbeirauschte, klang wie Musik – vertraut, nah und nach Sicherheit. Feathers rannte weiter, an einigen Mülltonen vorbei. Dann drehte er sich abrupt um, seine Krallen kratzten auf dem Asphalt, als er schlitternd zu bremsen

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