Zweilicht
Jay vorbeilief. Das Kassenhäuschen war verrammelt und die Bänke und Stühle waren längst abgeräumt. Jemand hatte alle Lampions von den Bäumen geholt. Aber das Zeichen war immer noch da! Eindeutig ein Efeublatt. Und noch ein weiteres Symbol. Hatte er es gestern Abend übersehen?
Es stellte vermutlich eine Welle dar, die über zwei spitz zulaufende Tore floss. Na toll, bin ich Frodo und soll den Eingangscode von Moria knacken?
»Ivy!«, rief er. Er kam sich komisch vor, aber die Müllsammler blickten nur kurz auf. Er spähte zu den Zweigen hoch – und entdeckte einen dieser flachen braunen Samen, die gestern auf ihn herabgerieselt waren. Er hatte sich zwischen zwei Zweigen verfangen. Unten auf dem Boden lagen noch mehr. Jay sammelte sie alle ein und betrachtete sie. So groß, wie sie waren, handelte es sich sicher um Baumsamen.
Plötzlich sank ihm der Mut. Tolle Idee, in einer Stadt mit acht Millionen eine Fremde finden zu wollen. Die dazu noch mehr von einem Geist als von einem Mädchen zu haben schien. Sie ist nicht mehr da . Er wusste nicht, woher er die Gewissheit nahm, aber der Park fühlte sich irgendwie … leer an.
Er stopfte die Samen in seine Hosentasche und streifte weiter durch den Park. Beim Forever-Baum blieb er stehen. Vielleicht sollte er ihr auch eine Nachricht hinterlassen? Er kramte nach seinem Hausschlüssel. Doch als er sich zu dem Baum umdrehte, stutzte er. Direkt auf Augenhöhe prangte ein Herz.
Er wusste nicht, warum, aber es beunruhigte ihn. Das hat nichts mit uns zu tun, redete er sich ein. Es kann auch »Mike liebt Joyce« heißen. Aber dann entdeckte er die anderen. Es waren bestimmt dreißig oder vierzig Herzen, und sie sahen so aus, als wären sie noch keinen Tag alt. Der dicke Stamm war regelrecht tätowiert. Besser gesagt: zugerichtet. Die Symbole und Buchstaben überlagerten ältere Botschaften und prangten sogar an den unteren Ästen. Fieberhaft suchte Jay nach einem anderen Anfangsbuchstaben, aber er fand keinen. Was ihn noch viel mehr verstörte, war die Art, wie aggressiv viele der Herzen in das Holz geritzt worden waren. Manche wirkten eckig, überlagerten sich und waren so tief hineingeschnitten, dass der Stamm Harz blutete. Als wäre hier ein Besessener am Werk gewesen! Instinktiv wich Jay ein paar Schritte zurück.
Diese Herzen wirkten wie eine Drohung. Ivy hat uns gestern beobachtet. Und sie hat etwas gegen Madison.
»Hey, Cowboy!« Er schrak zusammen.
Es war der grinsende Penner aus dem Freilichtkino. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und musterte Jay ganz unverhohlen. »Hi!«, nuschelte er. »Wie geht’s denn so?«
»Lass mich in Ruhe!«
Madman spuckte ekelhaft geräuschvoll aus und machte keine Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. »Blondi muss dich ja gestern ganz schön abserviert haben, dass es dir so die Laune verhagelt.«
»Wen meinst du?«
»Wen wohl, die Kleine mit dem Speer.«
»Du hast sie also auch gesehen!«
»Klaro. Ich seh sie oft.«
»Wo? Hier im Park?«
Madman schüttelte den Kopf. »Hier war sie nur wegen dir. Sie und die anderen leben irgendwo in Manhattan.«
»Die anderen? Welche anderen?«
»Noch so ’ne hübsche Junge. Und irgend so ein alter Sack mit schlitzigen Augen.«
Das war sicher keine gute Nachricht. Wenn es noch mehr von dieser Sorte gab …
»Wo leben sie? Wo genau?«
»Bin ich Jesus?«, blaffte Madman. »Und schrei mich nicht so an! Was weiß ich denn, wo die Bonzen wohnen? Im Trump Tower, vermute ich mal. Da habe ich sie neulich erst wieder getroffen. Sie hat mir was zu essen gegeben. Nettes Mädchen.«
Und gemeingefährlich. Jay legte instinktiv die Hand auf die Stelle, wo sonst seine Kette gewesen war. Der Verlust schmerzte umso schlimmer.
»Kannst du mich zu ihr führen?«, fragte er etwas freundlicher.
Madman winkte regelrecht angewidert ab. »Ich hab zu tun! Und außerdem: Suchen nützt nichts. Wenn sie dich finden will, dann findet sie dich.«
Jay ließ den Blick über den Forever-Baum schweifen. Und dann durchfuhr es ihn plötzlich wie ein elektrischer Schlag. Das Zeichen! Die Welle über den Spitzbögen. Drei Bögen, die an zwei Pfeilern mit spitzen Durchgängen hingen. Sie meinte die Hängebrücke, die Brooklyn Bridge. Hieß das, sie war dort?
Sein Mund war plötzlich so trocken, dass er schlucken musste. »Richtest du ihr wenigstens etwas aus, wenn du sie siehst?«
»Sehe ich aus wie die Post?«, schnappte Madman. »Was kriege ich dafür?«
Jay griff in die Taschen. Viel fand er
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