Zweilicht
weniger wichtig.
Das ferne Kreischen und Heulen ertönte wieder, gedämpfter nun, aber umso gespenstischer.
»Was ist das?«
»Reparaturarbeiten. Der Sturm hat die Brücken beschädigt. Und wenn der Wind von Nordwest kommt, kriegen wir den Lärm ab.«
»Alle drei Brücken?«
»Ja, aber am schlimmsten hat es die Brooklyn Bridge erwischt.«
»Waren die Brücken gestern auch schon gesperrt?«
»Klar.« Jay ließ die Worte in sich nachklingen. Ivy wollte gestern eine Brücke überqueren.
Sein Cousin musterte ihn aufmerksam. Rasch senkte Jay den Blick und angelte sich ein Stück Kuchen vom Teller. Es erinnerte zwar an einen Schlammklumpen, aber es schmeckte erstaunlich gut. Schwer und ein wenig nach süßen Früchten und fremdartigen Gewürzen. Erst jetzt merkte er, wie ausgehungert er war. Aidan sah ihm zu, wie er noch ein zweites Stück verschlang.
»Hör mal, Jay. Mir ist es völlig egal, ob das Mädchen nur in deinem Kopf existiert oder ob du sie wirklich gesehen hast. Aber erzähl Maddy nichts davon.«
»Weil sie sonst denkt, dass ich verrückt bin?«
»Nein, weil sie verdammt eifersüchtig ist, du Idiot. Sagt zumindest Jenna.«
»Das ist also unser Geheimnis und du hältst großzügig die Klappe?«
»Hand drauf!« Aidan nickte so ernsthaft, dass Jay wieder völlig überrascht war.
»Liegt dir wegen Jenna so viel daran?«
Aidan blickte aus dem Fenster. Ein Nieselregen hatte eingesetzt. Linda beeilte sich, im Garten nebenan ihre Wäsche abzuhängen.
»Nein, wegen Matt«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Vielleicht will ich einfach, dass zur Abwechslung mal alles normal läuft. Glaubst du, Matt war schon immer so mürrisch? Die Sache mit Robin hat ihm das Herz gebrochen. Aber er mag Maddy, und seit du hier bist, scheint es ihm besser zu gehen. Also tu mir den Gefallen und frage ihn nicht nach seinem Bruder. Erzähl ihm nichts von dem, was du siehst. Kein Wort! Und vor allem: Erwähne den Namen Wendigo nicht in diesem Haus. Niemals! Wenn es was zu erzählen gibt, dann sag es mir, und zwar nur mir, okay?«
Einige Sekunden sahen sie sich in die Augen, und obwohl er immer noch nicht ganz aus Aidan schlau wurde, sagte ihm sein Gefühl, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte.
»Okay«, antwortete er heiser.
Aidan schien wirklich erleichtert zu sein. »Gut. Dann ist es abgemacht.« Er griff nach seinen Arbeitshandschuhen. »Zeit, den Rest des Baumes klein zu hacken. Falls du nichts zu tun hast …«
»Dann sind wir jetzt also so etwas wie ein Team?«
Aidan hob überrascht die Brauen. Die Vorstellung schien ihn zu verwundern, aber dann kam er offenbar zu dem Schluss, dass es nicht das Schlechteste war. Er ließ sich zwar nicht zu einem Lächeln herab, aber immerhin deutete er ein lässiges Nicken an. »So was wie.«
Als er die Tür zum Garten aufriss, trug ein Windstoß braune Blätter in die Küche und trieb Feathers in die Ecke. »Ach ja, und noch was«, sagte Aidan, während er sich die Handschuhe überstreifte. »Schmeiß den Dreamcatcher weg. Matt hasst diesen Kram. Und Maddy kann so was auch nicht leiden.«
Jay versteifte sich sofort wieder. »Woher willst du das wissen?«
»Jenna sagt, das weiß jeder, der sie ein bisschen kennt.«
»Ich werde den Teufel tun und ihn wegwerfen! Was in meinem Zimmer ist, geht keinen von euch etwas an. Und Jenna schon gar nicht.«
»Ich meinte ja nur«, erwiderte Aidan und deutete auf Jays Brust. »Weil du ja immerhin schon so schlau warst, diesen blöden Anhänger abzunehmen.«
Der Schreck war wie ein eisiger Windstoß, der ihn bis auf die Knochen durchwehte. Jay griff er an seinen Hals in der Hoffnung, dass die Kette nur verrutscht war. Aber der Anhänger war tatsächlich weg! Und mit kristallklarer Gewissheit begriff er, dass er gar nicht erst danach suchen musste.
Nur auf Charlie war er jemals wütender gewesen.
Die Tür fiel mit einem Scheppern zu und Aidan stapfte in den Garten.
»Diese verdammte kleine Diebin«, presste Jay zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Feathers legte fragend den Kopf schief.
»Was?«, fuhr er den Hund an. »Glaubst du etwa, ich kriege meinen Anhänger nicht zurück?«
goldlicht
jetzt am Tag hatte der Park jeden Glanz von Geheimnis verloren. Zwei Jugendliche, die vermutlich Sozialstunden als Müllsammler ableisten mussten, pickten ohne großen Enthusiasmus Papierservietten und leere Nachos-Tüten vom Boden auf. Ihre Plastiktüten knatterten raschelnd in einer Windbö. Die Jungs hoben nicht einmal den Blick, als
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