Zweilicht
bestimmt mindestens so gut gefällt wie dir.«
*
Diesmal hätte er viel dafür gegeben, sich in die traumlose Ohnmacht der Trugwelt fallen zu lassen. Aber er träumte wieder, sobald er auch nur die Augen schloss – wirre Szenen mit Madison und Charlie im Lichtermeer der Großstadt. Tagsüber gelang es ihm, die Gedanken an Charlie und sein rot durchgestrichenes Land auf der Weltkarte in irgendeinen lichtlosen Winkel seines Bewusstseins zu verbannen. Aber dennoch durchlebte er die Tage wie in Trance und fühlte sich wie ein Schauspieler im falschen Stück. Nur dass ein Schauspieler nach der Vorstellung nach Hause gehen konnte, wo eine warme Dusche, der Fernseher, ein Telefon und ein ganz normales Leben auf ihn warteten. Jay dagegen entkam seiner neuen Rolle nicht. Nach und nach blätterte der Glanz der Trugwelt ab und enthüllte graue Schichten eines neuen, entbehrungsreichen Lebens, das ihm so fremd war, als wäre er auf einem fernen Planeten ausgesetzt worden.
Immerhin heilte sein Arm gut, aber nun war es eine andere Art von Fieber, das ihn ausbrannte. Es war wie eine Sucht nach Madisons Nähe, und obwohl Faye ihm versicherte, es sei nur der Bann der Trugwelt, fühlte er sich, als würde er ein Tal von Liebeskummer und Verlassenheit durchschreiten. Außerdem hatte er sich noch nie so sehr nach Lärm gesehnt, ihm fehlten sogar die Feuerwehrsirenen, der Motorenkrach und das nervtötende Gehupe der Taxis so sehr, dass es schmerzte. Wenn er nachts wachlag, rief er sich das Summen von Menschenmassen in der Stadt ins Gedächtnis, Werbejingles, den Geschmack von Kaffee und Telefonklingeln. Einmal fragte er Liberty, ob sie ihm die Charthits von 2012 aufzählen könne, aber sie rümpfte die Nase und schmetterte stattdessen aus voller Kehle »New York, New York« von Frank Sinatra. Auch jetzt, als er allein war, hallte die Melodie in seinem Kopf wider.
Natürlich fand Columbus ihn auch heute. Mit der Zielstrebigkeit eines Jagdhundes, der seine Beute gewittert hatte, tauchte er im vierten Stock in der Museumsbibliothek auf, in die Jay sich verkrochen hatte. Das, was früher Bücher gewesen waren, erinnerte jetzt an verkrustete Sedimentschichten, aus denen nur noch Archäologen etwas über die vergangene Zeit herauslesen konnten.
»Komm mit! Ich brauche deine Hilfe.«
»Müssen wir wieder etwas aus dem Keller in die Halle schleppen?«
»Ja, aber nicht hier.«
Jay hob den Kopf. »Ich soll rausgehen?«
»Natürlich. Wie lange willst du dich noch verkriechen?«
»Ich verkrieche mich nicht. Ich habe nur keine Lust, wie ein Gefangener mit Hofgang behandelt zu werden.«
Columbus gab ein tadelndes Schnalzen von sich. »Gefangener«, sagte er spöttisch. »Es steht dir frei, jederzeit nach draußen zu gehen.«
»Ja, aber nur mit einem von euch – wie ein Hund mit einem Dogwalker.«
»Das hat seinen Grund«, erwiderte Columbus ungerührt. »Ein falscher Schritt und du kommst von den gesicherten Pfaden ab. Wir haben den Plan im Kopf, du dagegen …«
»Schon gut«, murrte Jay.
»Hier, wütender Mann!« Der Alte hielt ihm einen gebogenen Säbel hin. Vermutlich war er Hunderte von Jahren alt. Columbus plünderte seit Tagen mit Begeisterung die Vitrinen des Museums. Vor allem Schwerter, Messer und Säbel hatten es ihm angetan, aber auch Speere und Harpunen aus der Pazifik-Abteilung suchte er zusammen und hortete sie. Seine eigene Ausrüstung hatte er um einige Dolche aus dem Mittelalter aufgestockt. »Nimm schon.«
Jay schnaubte verächtlich. »Soll ich damit gegen euren Wendigo kämpfen, wenn ich ihm begegne? Um die Weltherrschaft?«
Die Miene des Alten gefror. Er packte Jay grob an der Jacke und zog ihn an sich heran. »Rede nie achtlos von ihm. Du hast keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben.«
»Wie denn auch?«, konterte Jay. »Ihr erzählt mir nur etwas von Magie und bösen Mächten …«
»Ganz genau«, herrschte Columbus ihn an. »Darum geht es. Wenn wir das vergessen, werden wir ausgelöscht.«
»So wie meine Welt?«, sagte Jay bitter. »Tja, Willkommen im Klub.«
Der Alte ließ ihn los und trat zurück. Breitbeinig stand er vor ihm, ein Samurai mit einem Krummsäbel und zwei Pistolen am Gürtel.
»Wärt ihr damals nicht so verblendet gewesen, dann wäre die Welt vielleicht heute so, wie du sie dir erträumst. Aber sie ist es nicht. Also gewöhn dich dran. Hier, nimm!« Mit einer herrischen Geste streckte er ihm den Säbel hin.
Jay schüttelte den Kopf. »Warum bist du nur so wütend?«, fragte
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