Zwergenbann: Roman
am Morgen getan, doch der Waldläufer war dagegen gewesen, was Warlon jetzt verstehen konnte. Gegen die Kälte hier waren die Temperaturen beim Verlassen der Höhle geradezu frühlingshaft gewesen.
Fest wickelten sie sich in die Decken und genossen das bisschen zusätzliche Wärme, das sie ihnen spendeten. Wovor sie jedoch keinen Schutz boten, war der schneidend scharfe Wind, der ihnen entgegenwehte und ihnen wie mit tausend Nadeln ins Gesicht zu stechen schien. Sein Heulen klang wie ein Chor unheimlicher
Geisterstimmen. Warlons Augen tränten ununterbrochen, sodass er seine Umgebung nur undeutlich durch einen Tränenschleier wahrnahm.
Hier, inmitten dieser Einöde aus Schnee, Eis und Einsamkeit, konnte man das Gefühl bekommen, dass sie ganz allein auf der Welt waren. Die Erinnerungen an die schwüle Wärme des Finsterwalds oder die weiten Ebenen von Radon unten im Tal und den dort herrschenden Sommer verblassten rasch.
Stunde um Stunde stapften sie voran, und jeder Schritt wurde zur Qual. Noch niemals hatte Warlon eine solche Kälte erlebt. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass Zwerge im Allgemeinen weitaus zäher und widerstandsfähiger als Menschen waren, doch mit Extremtemperaturen kamen sie schlechter zurecht, weil sie einfach nicht daran gewöhnt waren. Besonders Ailin litt darunter, das war ihren immer fahriger werdenden Bewegungen anzumerken. Anders als in der Tiefenwelt, wo sie sich bei einer früheren Expedition mittels eines Zaubers gegen die Hitze in einer Feuerhöhle geschützt hatte, konnte sie hier an der Oberfläche nicht auf ihre Fähigkeiten als Priesterin zurückgreifen.
Dennoch kam kein Wort der Klage über ihre Lippen.
Allmählich wurde die Schneeschicht dicker, reichte ihnen nun schon bis zu den Knien und erschwerte ihr Vorankommen noch zusätzlich. Wie Morast schien der Schnee ihre Füße festhalten zu wollen, bis sie sie schließlich gar nicht erst mehr bei jedem Schritt herauszogen, sondern sich eine schlurfende Gangart zulegten, bei der sie ihn mit den Beinen vor sich her und zur Seite schoben, was längst nicht so anstrengend war.
Monoton setzte Warlon in ewig gleichen Bewegungen einen Fuß vor den anderen. Trotz seiner Stiefel aus dickem, mit Pelz gefüttertem Leder spürte er seine Zehen kaum noch.
Und dann endete die V-förmige Schlucht, durch die das ehemalige Bachbett sie seit mehr als einer Stunde führte, ein Stück vor ihnen plötzlich an einer schroffen, Dutzende Meter hoch aufragenden Felswand.
Sie waren erneut in eine Sackgasse geirrt.
Warlon wollte stehen bleiben, aber er konnte es nicht. Wie in Trance setzte er weiterhin einen Fuß vor den anderen, den Blick nun nicht mehr auf den Boden vor sich, sondern nur auf die Felswand gerichtet. Nach einigen Schritten stolperte er über irgendetwas und stürzte der Länge nach in den Schnee.
Die Kälte brachte ihn wieder zur Besinnung. Mühsam rappelte er sich auf.
Es schien, als hätte die Erkenntnis, dass sie unter diesen mörderischen Bedingungen einen beträchtlichen Teil des Weges in die Irre gelaufen waren und ihnen nun nichts anderes übrig blieb, als ihn wieder zurückzugehen, sie all der Kraft beraubt, mit der sie sich bislang vorangequält hatten. Lokin hatte sich auf einen Felsbrocken sinken lassen, während Ailin ebenfalls in den Schnee gestürzt war.
Malcorion rief irgendetwas, das Warlon nicht verstand, und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr wieder auf die Beine zu helfen, doch sie reagierte nicht einmal darauf, sondern blieb regungslos liegen. Nach einigen Sekunden bückte er sich und zog sie mit einem Ruck in die Höhe. Fast wäre sie sofort wieder gestürzt, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. Der Waldläufer führte sie zu dem Felsen, auf dem Lokin saß, und sie ließ sich mit letzter Kraft ebenfalls darauf nieder.
Warlon setzte sich neben sie, legte einen Arm um sie und drückte sie an sich, um sie ein wenig zu wärmen.
»Es … es hat keinen Sinn«, stieß Ailin zähneklappernd hervor. Nur mit Mühe gelang es ihr, überhaupt zu sprechen. »Ich … ertrage diese Kälte nicht. Ich wollte nicht, dass … alles meinetwegen scheitert, aber es geht … einfach nicht mehr.«
»Es ist nicht deine Schuld. Du hast bewundernswert durchgehalten, aber dieser Kälte sind wir einfach nicht gewachsen, keiner von uns«, erwiderte Malcorion. Auch ihm fiel das Sprechen schwer, und seine Stimme klang fremd. »Dagegen hilft auch die größte Tapferkeit nichts. Wenn wir nicht umkehren, werden wir
alle sterben.
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