Zwergenfluch: Roman
hier aus den Gebeten zur Göttin lauschen.
Tharlia erwartete sie bereits und kam ihnen entgegen. Hier befand sie sich in ihrem Element, und trotz der frühen Stunde verkörperte sie ein Muster an gebieterischer Würde. Ihr schwarzes Haar war perfekt frisiert und verschmolz an den Schultern mit ihrem schwarzen Gewand. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, dass sie nur wenige Stunden geschlafen hatte. Nicht der geringste Schatten lag unter ihren Augen.
»Barlok, wie schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen«, begrüßte sie ihn und bedeutete mit einer Handbewegung der Priesterin, die ihn hergeführt hatte, zu gehen. »Allerdings habe ich noch nicht so früh mit dir gerechnet. Wie fühlst du dich heute?«
»Gut genug, um deine Fürsorge nicht länger zu beanspruchen und unverzüglich von hier zu verschwinden«, knurrte Barlok. Gleich darauf wurde ihm bewusst, dass seine Worte nicht nur undankbar, sondern geradezu feindselig klangen, und fast entschuldigend fügte er hinzu: »Du musst das verstehen, es ist mir nun mal zuwider, untätig im Bett liegen zu müssen, wenn wichtige Aufgaben auf mich warten.«
»Ich verstehe dich gut, schließlich kenne ich dich schon lange genug. Da du offenbar wirklich gesund bist, gibt es auch keinen Grund, dich länger hierzubehalten. Ich wollte
mich vor deinem Aufbruch nur noch persönlich von deinem Zustand überzeugen.«
»Keine weiteren Versuche, doch noch meine Unterstützung für eine Verschwörung gegen den König zu gewinnen?«
»Würde es etwas nützen? Ich weiß, wie du darüber denkst, und du weißt, wie ich darüber denke. In meinen Augen ist es keine Verschwörung, sondern etwas, das zum Wohle unseres Volkes geschehen muss, bevor Burian uns alle durch seine Unfähigkeit ins Verderben stürzt. Ich hoffe, dass auch du das noch erkennst und deine Meinung änderst.«
»Jetzt fängst du doch wieder an«, schnaubte Barlok, obwohl er wusste, dass er ihr damit unrecht tat. »Glaub mir, das wird nie geschehen.«
»Man sollte niemals nie sagen, wenn man nicht weiß, was einen noch erwartet. Aber du hast Recht, lassen wir das«, entgegnete Tharlia. »Ob sie ihr Ziel bereits erreicht haben?«
Überrascht durch den plötzlichen Themenwechsel brauchte Barlok einen Moment, um zu antworten.
»Ich glaube noch nicht, aber lange dürfte es nicht mehr dauern. Und was dann passiert...«
»Ich würde es spüren, wenn Ailin etwas zustieße«, behauptete Tharlia. »Die Weihepriesterinnen und ich haben eine engere geistige Bindung, als du es dir vorstellen kannst. Es lässt sich mit Worten nicht erklären, aber du kannst mir vertrauen, dass zumindest bislang nichts passiert ist.«
»Wenn du diese Fähigkeit besitzt, wäre ich dir dankbar, wenn du -«
»Sei unbesorgt, ich werde dir unverzüglich Bescheid geben, falls ich etwas erfahre«, unterbrach Tharlia ihn. »Und da ist noch etwas. Ich habe vor ein paar Stunden eine Nachricht von Selon erhalten. Der Bote wollte mir nicht
sagen, worum es geht, aber der Schriftmeister bittet dich, ihn möglichst bald aufzusuchen. Ich vermute, es hat etwas mit diesem Symbol...« Sie brach ab und begann zu zittern. Gleich darauf zuckte sie wie unter einem Krampf zusammen, krümmte sich und presste die Handflächen auf die Schläfen.
»Was ist los?«, fragte Barlok besorgt und griff nach ihren Schultern.
»Tod«, murmelte sie. »Ich sehe... Leid und Tod. Ein Kampf. Ailin... Sie ist in Gefahr... braucht meine Hilfe!«
Mit einem Ruck riss Tharlia sich los, fuhr herum und hastete auf eine Tür neben den großen Flügelportalen im Hintergrund des Raumes zu. Nach kurzem Zögern folgte Barlok ihr und betrat die eigentliche Tempelhalle. Auch hier bestanden die Wände ganz aus schwarzem Basalt, doch wurde das riesige Gewölbe von Kohlenbecken und vereinzelten Fackeln nur so schwach erhellt, dass Barloks Augen selbst nach der ebenfalls nicht gerade hell erleuchteten Vorhalle mehrere Sekunden brauchten, um überhaupt schwache Umrisse zu erkennen.
Tharlia lief auf den wuchtigen Altarblock nahe der Stirnwand der Halle zu, wo sie bereits einige Ober- und Weihepriesterinnen erwarteten. In ihren schwarzen Gewändern waren sie vor dem dunklen Hintergrund fast unsichtbar. Barlok entdeckte sie erst, als sie sich bewegten und in einem Kreis um den Altar stellten, in den sich auch Tharlia eingliederte. Die Priesterinnen nahmen sich an den Händen. Ein dumpfer, in der Weite des Gewölbes widerhallender Gesang ertönte, der keine Melodie zu besitzen schien, sondern
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