Zwergenfluch: Roman
nicht, aus Furcht, die Träume könnten zurückkehren. Stattdessen setzte er sich vollends auf, verharrte eine Weile auf der Bettkante und barg sein Gesicht mit auf die Oberschenkel gestützten Ellbogen in den Händen. Sein Zeitgefühl war ihm gänzlich abhandengekommen, was äußerst ungewöhnlich war. Normalerweise wusste er auch direkt nach dem Aufwachen stets auf die Stunde genau, welche Tageszeit gerade herrschte.
So endlos sie einem manchmal auch erscheinen mochten, dauerten Albträume in Wahrheit meist nur kurze Zeit, weshalb er vermutete, dass es noch immer später Abend war. Umso überraschter war er, als er nach einigen Minuten
schließlich aufstand und aus dem Fenster blickte. Die großen Linsen an den Lichtschächten begannen sich bereits grau zu färben; die Nacht war fast vorbei und an der Oberfläche begann schon die Morgendämmerung.
Obwohl es ihm nicht so vorkam, hatte er den gesamten Rest der Nacht verschlafen. Kein Wunder, dass er sich ausgeruht vorkam. Auch körperlich fühlte er sich deutlich besser als gestern. Die Kraft war in seine Glieder zurückgekehrt, auch wenn er vom langen Liegen noch etwas steif und ungelenkig war, aber das würde sich rasch geben. Auf jeden Fall würde er nicht länger hierbleiben. Mochte er sein Leben auch der Kunst der Hexen verdanken, der Dunkelturm war nach wie vor kein Ort, an dem er sich gerne und länger als unbedingt nötig aufhielt. Erst recht nicht, wenn anderswo dringende Aufgaben auf ihn warteten.
Barlok öffnete die Truhe, holte seine Kleidung heraus und begann sich anzuziehen. Seine Bewegungen wurden mit jedem Moment fließender. Er spürte auch keinerlei Schmerzen mehr in der Seite, und nach kurzem Zögern entfernte er den Verband. Die Wunde war gut verschorft, in ein paar Tagen würde nur noch eine weitere kleine Narbe zurückbleiben. Er musste zugeben, dass Tharlia und ihre Hexenschwestern wirklich hervorragende Arbeit geleistet hatten.
Dennoch hatte er wenig Lust, ihr vor seinem Aufbruch noch einmal zu begegnen, auch wenn es unhöflich sein mochte, einfach so zu verschwinden. Deshalb war er im Grunde recht froh, dass er bereits so früh aufgewacht war. Rasch kleidete er sich fertig an und öffnete die Tür.
Seine Hoffnung, sich unbemerkt davonstehlen zu können, erfüllte sich nicht. Direkt gegenüber seiner Kammer
saß eine verschleierte Hexe auf dem Gang, die aufstand, sobald er durch die Tür trat. Es handelte sich nur um eine Novizin, wie an ihrem völlig schmucklosen Gewand zu erkennen war.
»Die Hohepriesterin hält es für an der Zeit, Euch heute aus der Obhut unseres Ordens zu entlassen. Sie bat mich, hier zu warten, bis Ihr aufsteht, damit ich Euch direkt zu ihr führen kann«, erklärte sie gestelzt. »Bitte folgt mir.«
Seufzend ergab Barlok sich in sein Schicksal. Offenbar hatte Tharlia vorausgesehen, dass er versuchen würde, sich unauffällig aus dem Staub zu machen, und wollte ihn nicht einfach so gehen lassen. Es war leicht zu erraten, auf welches Thema sie ihn noch einmal ansprechen wollte, und genau dem hatte Barlok entgehen wollen. Je nachdem, wie schnell die Expedition vorangekommen war, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreichte. Lieber wollte er in Gedanken bei den Kriegern sein, statt sich ein weiteres Mal Tharlias umstürzlerische Ideen anhören zu müssen.
»Schläft sie eigentlich nie?«, fragte er, während er der Hexe den Gang entlang folgte. Sie erreichten eine steinerne Wendeltreppe, die sich in engen Windungen in die Tiefe schraubte.
»Die Hohepriesterin hat heute Nacht einige Stunden geruht«, erwiderte die Hexe ohne zu erkennen, dass seine Frage nicht ernst gemeint war. »Die Göttin verleiht ihr die Kraft, mit sehr wenig Schlaf auszukommen.«
Scheinbar endlos führte die Treppe in die Tiefe. Barlok gab es schon bald auf, die Stufen zu zählen. Noch am gestrigen Tag hätte er diese Treppe auf keinen Fall bewältigt. Jetzt stellte sie in seinen Augen eine gute Bestätigung dafür dar, dass seine Kräfte tatsächlich fast vollständig zurückgekehrt waren.
Irgendwann erreichten sie schließlich das Ende der Treppe und gelangten in einen großen, bis auf eine Vielzahl von Skulpturen entlang der Wände völlig kahlen Saal mit einer hohen, in Rundbögen geformten Decke: den von mehreren Lampen erleuchteten Vorraum der Tempelhalle. Da diese oft nicht mehr ausreichte, um an besonderen Festtagen alle herbeiströmenden Gläubigen aufzunehmen, konnten sie bei weit geöffneten Zwischenportalen von
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