Zwergenfluch: Roman
wagte er nicht, sie anzublicken. »Alles, nur das nicht! Ich … ich heiße Lokin.«
»Ein Ausgestoßener ohne Haus, der einen Kriegertrupp unter seinem Kommando feige im Stich ließ, um sein Leben zu retten«, sagte der Wachposten verächtlich. »Ich habe von ihm gehört. Übergeben wir ihn der Stadtgarde, die wird kurzen Prozess mit ihm machen.«
»Gnade«, jammerte Lokin. »Wenn Ihr mich der Garde übergebt, werde ich den Rest meines Lebens im Kerker verbringen.«
»Was du auch verdient hast«, entgegnete Tharlia kalt. »Du wolltest uns berauben.«
»Nur, weil ich vor Hunger schon ganz verzweifelt war. Habt Mitleid und lasst mich laufen. Ich schwöre, dass ich mich Eurem Haus niemals wieder nähern werde. Ich … ich werde Elan-Dhor sogar ganz verlassen, wenn Ihr es verlangt, und zur Oberfläche gehen. Ich kenne Leute da und -«
»Wahrscheinlich Gauner wie er, die ihm sein Diebesgut abkaufen«, warf der Wachposten ein. »Wir sollten -«
»Schweigt!«, verlangte Tharlia. »Alle beide.«
Sie überlegte kurz. Sicherlich wäre es angemessen, den Mann der Garde auszuliefern. Als Ausgestoßener, der bei einem Verbrechen wie diesem erwischt wurde, würde er vermutlich für viele Jahre, wenn nicht sogar tatsächlich den Rest seines Lebens in den Kerker geworfen werden. Was sie zögern ließ, war kein Mitleid, sondern ein ganz anderer Gedanke. Bei dem Einbruch hatte Lokin nicht nur Mut, sondern auch eine beträchtliche Portion Geschick bewiesen. Es wäre ihr als Verschwendung erschienen, jemanden wie ihn einfach einzusperren, vor allem, wenn er zudem auch noch gute Kontakte zur Oberfläche hatte. Ein Mann wie er könnte sich noch einmal als nützlich erweisen, erst recht, wenn er völlig ihrer Gnade ausgeliefert war.
»Ich werde ihn nicht ausliefern, zumindest für den Moment nicht. Bringt ihn in eines der Gästequartiere, und gebt ihm etwas zu essen!«, befahl sie. »Behandelt ihn gut, aber bewacht ihn auch mindestens ebenso gut. Ich werde später entscheiden, was mit ihm geschieht. Bis dahin möchte
ich nicht, dass auch nur ein Wort über diesen Vorfall nach draußen dringt.«
»Ich danke Euch«, stieß Lokin hervor und wäre wahrscheinlich vor ihr auf die Knie gefallen, hätte ihn die Wache nicht immer noch festgehalten. »Ihr werdet es nicht bedauern, wenn Ihr mich verschont, das schwöre ich! Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.«
»Du wirst Gelegenheit bekommen, das zu beweisen, verlass dich darauf. Aber solltest du mich enttäuschen, ist mehr als nur deine Freiheit verwirkt«, erwiderte Tharlia und wandte sich ab. »Schafft ihn fort!«
Barina war mit ihrem Leben zufrieden. Natürlich könnte manches besser sein, aber im Großen und Ganzen hatte sie wenig Grund, sich zu beklagen.
Selbst als Angehörige eines noch jungen, nur wenige Generationen umfassenden Hauses, hatte sie schon in frühen Jahren Tunok geheiratet, den Spross einer unbedeutenden Seitenlinie des Hauses Walortan. Mehrere Jahre hatten sie als Teil dieser mächtigen Dynastie gelebt, ohne dass sie dort allzu glücklich geworden war. Zu groß war die Familie, und zu groß auch die Zahl derer, die sich immer wieder in ihr Leben eingemischt hatte. Tunok war es nicht anders ergangen. Als sich bei ihr Nachwuchs ankündigte, hatten sie Walortan deshalb verlassen, um ein eigenes Haus zu gründen.
Das Haus Tunok …
Sicherlich konnte es sich nicht annähernd an Größe, Macht oder Einfluss mit Walortan messen und würde es voraussichtlich auch niemals können, aber darauf legte Barina auch keinerlei Wert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren mittlerweile zwei Kindern bewohnte sie eine der kleinen
Höhlen im Ostviertel Elan-Dhors. Es war nicht viel mehr als eine schäbige Grotte mit einem nur wenige Schritte durchmessenden Wohn- und einem noch kleineren Schlafraum, doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte sie das Innere liebevoll nach ihrem Geschmack eingerichtet.
Manchmal drangen Lärm und Gestank von den nahen Schmelzöfen, Schmieden und anderen ebenfalls im Ostteil angesiedelten Fertigungsstätten bis dorthin, dennoch hätte sie es unter keinen Umständen mehr gegen allen Prunk des Hauses Walortan eintauschen wollen. Unter ähnlichen Umständen war sie aufgewachsen, und hier war sie ihre eigene Herrin, ohne sich wie ein winziges Teil im Räderwerk einer großen Dynastie zu fühlen.
Auch über ihre Arbeit konnte sie sich nicht beklagen. Barina arbeitete in einer Spinnerei, wo die Wolle der Luanen zu Garn für Kleidungsstücke
Weitere Kostenlose Bücher