Zwergensturm
Länder zu erobern und sich an deren Schönheiten zu ergötzen.
Maui fühlte sich seltsam leer. Seit Langem. Ihr Trieb, Kunst aufzustöbern und zu sammeln, der fast einer Sucht glich, war … erloschen. Sie ging dem noch nach, aber mehr, weil die Tradition es verlangte.
Ihr Bruder Gram hingegen hatte von seinem Feuer nichts verloren. Im Gegenteil, er schien immer wilder darauf zu sein, die Bestimmung der Dunkelelfen zu erfüllen und alles Schöne der ganzen Welt um sich herum zu versammeln. Manchmal wirkte er zu kühn auf sie. Sie hatten sich entfremdet. Früher, als sie noch kleiner gewesen waren und kaum dem Kindesalter entwachsen, spielten und tobten sie noch zusammen. Heute endete fast jede Begegnung im Streit. Er warf ihr vor, zu rücksichtsvoll zu den besetzten Völkern zu sein. Doch rücksichtsvoll? Mit einem Zehnt von dreißig vom Hundert auf alles, was die Völker produzierten? Sie wusste, dass viele Familien in Armut lebten, jedoch waren ihr noch nie irgendwelche Beschwerden zu Ohren gekommen. Die Völker zahlten brav. Auch das war ein Grund dafür, dass sie sie nicht einfach noch mehr ausbeuten wollte.
Und wofür eigentlich? Der ganze Palast war bereits voll von Kunstwerken aller Art, Gemälden, wertvollen Teppichen. War es wirklich der Lebenszweck der Dunkelelfen, alle, wirklich alle Kunstwerke bei sich zu vereinen? Wer sollte dann noch welche produzieren, wenn man sie dem Hersteller ohnehin gleich abnehmen würde? Kunst erforderte Freiheit, die Freiheit des Geistes und die des Körpers. Unter Zwang entstand keine Kunst. Jedenfalls keine echte.
Und dann war da noch das Versprechen, das man den Völkern gegeben hatte : sie zu schützen. Doch nun standen die Orks an der Ostgrenze des Landes. Mit den Goldminen würden sich die Orks nicht lange zufrieden geben, das war ihr klar. Und wenn diese Horde mordend und plündernd tatsächlich eine der Städte erreichen würde – nicht auszudenken, was dann passieren würde. Sie kannte den Gefechtswert der Armee der Dunkelelfen. Er reichte sicherlich, um unbewaffnete und mehr oder weniger willenlose Völker unter Kontrolle zu halten. Aber wirklich gekämpft hatten sie alle lange nicht mehr, manche der Jüngeren gar noch nie. Ihnen fehlten Erfahrung, Struktur und Geist. Einen Beauftragten für die Armee gab es schon lange nicht mehr, sie hatten das Amt bereits vor zwanzig Jahren abgeschafft. Die Garnisonen verwalteten sich selber, einige der zwanzig Hauptleute, die die Armee noch hatte, machten sich noch die Mühe, sich ab und zu mal zu treffen und die Lage im Land zu erörtern. Maui lachte kurz und spöttisch; sie wusste, dass diese Erörterungen eher Saufgelagen glichen. Es hatte jahrzehntelang keine „Lage“ mehr gegeben, die man hätte erörtern können. Jetzt gab es sie, in Form eines Heeres von mehreren Hundert Orks, unterstützt offenbar von gewaltigen Ogern, die man auch nicht so einfach mit Langbögen stoppen konnte.
Maui wollte nicht versagen. Nicht gegenüber ihrer Herkunft als Dunkelelfe, und nicht den besetzten Völkern gegenüber. Sie befürchtete zudem, dass sie ihrem Bruder gegenüber bereits versagt hatte.
Es klopfte an der Tür.
Maui straffte sich, um sich aufrecht hinzusetzen und kein allzu klägliches Bild abzugeben. Sie erwartete die Berichte der Beauftragten und bat die Wartenden herein.
Einer ihrer Diener steckte den Kopf durch die Tür. „Königin, einer Eurer Hauptleute wünscht Euch zu sprechen.“ Überrascht nickte sie dem Diener zu. Der verschwand hinter der Tür, die danach weit aufgeschlagen wurde. Im Türrahmen stand, aufrecht und mit stolzem Blick, einer der Hauptleute der Armee, die sie besser kannte. „Lok’thodar!“, rief sie und stürmte auf ihn zu. Mit ihren beiden Händen griff sie freudig seine Rechte und schüttelte sie kräftig. „Ihr lebt!“ Lok’thodar umarmte sie kurz – nicht zu sehr, das geziemte sich nicht, dann gingen sie gemeinsam zum Besprechungstisch. Das war ein Besuch, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
„Ich meine mich zu erinnern, dass Ihr an den Goldminen Wache hieltet. Wart Ihr da?“ Lok’thodar holte tief Luft. „Ja, meine Königin. Und es war kein Vergnügen. Wir haben Lakos verloren, ein Oger hat ihn zerrissen. Und fast alle Arbeiter. Wir hatten keine Chance.“
Maui hatte natürlich auch von den Umständen gehört und sich entschlossen, auch die Völker zu informieren, was bereits geschehen war. Aber die Details kannte sie noch nicht. „Fast alle Arbeiter?“ Sie war betrübt.
Weitere Kostenlose Bücher