Zweyer, Jan - Rainer
der späten 70er-Jahre ließ sich nicht verbergen. Rainer tröstete sich damit, dass er zum einen nicht auf einer Modenschau war, zum anderen sogar dicksohlige Schuhe und Schlaghosen wie in den 60ern wieder modern waren. So betrachtet, war er möglicherweise ein einsamer Trendsetter.
Die nasse Kälte kroch unter den viel zu kurzen Mantel. Esch stampfte von einem Fuß auf den anderen, um die Durchblutung seiner Zehen zu beschleunigen. Schließlich drückte er sich an die Außenmauer der Kapelle und steckte sich mit kalten Händen eine Reval an. Um seine steifen Hände in den Manteltaschen zu wärmen, schob er die Kippe zwischen die Lippen, klemmte den Blumenstrauß unter seinen rechten Arm und lehnte sich an die Wand. Außer ihm standen noch einige andere Wartende verloren im Nieselregen. Esch vermutete, dass auch sie sich verspätet und ähnliche Skrupel wie er selbst hatten.
Eine gute Viertelstunde später läutete die Glocke der kleinen Kapelle. Dann öffnete sich die schwere, zweiflügelige Tür und der mit Blumen geschmückte Sarg wurde von vier in Bergmannskitteln gekleideten Männern auf einem Transportgestell herausgefahren. Dahinter ging gemessenen Schrittes der Pastor, gefolgt von den gramgebeugten Familienmitgliedern. Mit einem kleinen Abstand schloss sich die Trauergemeinde an.
Rainer ließ die Trauernden an sich vorbeiziehen und reihte sich am Ende des Zuges ein. Schweigend ging es bis zum Grab. Dort sprach der Pastor einige letzte Worte und die Träger ließen den Sarg hinab. Danach traten die Anwesenden nacheinander an die Grube, warfen etwas Erde oder Blumen in die Tiefe und kondolierten den Familienmitgliedern. Eschs Blumenstrauß war durch die unsachgemäße Aufbewahrung zwischen Achselhöhle und Kapellenwand leicht ramponiert.
Der Anwalt ließ ihn deshalb schnell, kaum dass er an das Grab getreten war, nach unten auf den Sarg fallen.
Dann wandte er sich an die beiden Frauen, die neben dem Grab standen. Die jüngere stützte die ältere. Vermutlich Tochter und Mutter. Rainer reichte den Schwarzgekleideten die Hand und murmelte: »Mein herzliches Beileid.«
Die ältere Frau deutete mit einem wortlosen Kopfnicken ihren Dank an.
Als Rainer der jungen Frau sein Bedauern aussprach, musterte diese ihn prüfend und antwortete: »Danke sehr.
Woher kannten Sie meinen Vater? Ich glaube nicht, dass wir uns…«
»Nein, wir sind uns noch nicht begegnet. Mein Name ist Rainer Esch, ich bin Anwalt. Ihr Vater hat mich vor einigen Tagen aufgesucht und…«
»Ihre Stimme kommt mir bekannt vor. Haben Sie bei uns angerufen?«
»Ja, am Donnerstag. Ich…«
Ruth Pawlitsch unterbrach Esch erneut: »Wenn Sie Zeit haben, würden wir uns freuen, wenn Sie mit zum Kaffeetrinken kommen könnten. Wir treffen uns in der Gaststätte Schrebergarten Teutoburgia. Wissen Sie, wo das ist?«
Rainer bejahte.
»Gut. Dann bis später.« Ruth Pawlitsch drehte sich zur Seite und gab damit zu verstehen, dass sie das kurze Gespräch für beendet hielt. Sie wandte sich dem nächsten Trauergast zu.
Rainer parkte seinen roten Mazda MX 5 im Parkverbot des Anlieferungsbereiches eines Heizwerkes der Ruhrkohle Wärme GmbH. Er hoffte, dass die Anlieferung von Kohle nicht ausgerechnet in der nächsten Stunde erfolgen würde. In dieser Gegend Hernes waren Politessen ausgesprochen selten. Ihr natürliches Jagdrevier war die Innenstadt, wie Rainer schon häufiger leidvoll hatte feststellen müssen, und nicht die Vororte.
Die Kneipe lag am anderen Ende der Schrebergartenkolonie Teutoburgia.
Am Fenster der Eingangstür war mit Klebestreifen ein Schild befestigt: Trauerhaus Pawlitsch. Geschlossene Gesellschaft.
Esch betrat die Gaststätte. Unschlüssig blieb er in der Nähe der Tür stehen. In der Mitte des Raumes war aus vielen einzelnen Tischen eine lange Tafel zusammengestellt worden, die gut dreißig Personen Platz bot, wie Rainer grob schätzte.
An einer Seite, mit dem Gesicht zur Eingangstür, saßen bereits sechs oder sieben Gäste, die Esch neugierig musterten.
Pawlitschs waren augenscheinlich noch nicht eingetroffen.
Der Anwalt trat an den Tisch, nickte den anderen grüßend zu und setzte sich auf einen Stuhl an die gegenüberliegende Seite, gerade so weit von den schon Sitzenden entfernt, dass bei denen nicht der Eindruck entstehen konnte, er wollte mit ihnen nichts zu tun haben; aber trotzdem auch nicht nahe genug, dass zwangsläufig ein Gespräch entstehen musste.
Rainer bestellte einen Kaffee, zündete sich eine
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