Zweyer, Jan - Rainer
schluckte. »Ich weiß, dass sich das alles schrecklich anhören muss. Aber denken Sie daran, dass Ihre Eltern möglicherweise finanzielle Verpflichtungen haben, und da das Einkommen Ihres Vaters nun wegfällt…« Rainer sprach nicht weiter.
»Verstehe. Und was würde Ihr Engagement kosten?«
»Na ja. Eigentlich… Also… Das heißt…«
»Was heißt was?«, fiel ihm Ruth Pawlitsch heftig ins Wort.
»Sie haben möglicherweise Anspruch auf Prozesskostenhilfe.
Die übernimmt der Staat. Wenn das der Fall ist, würde ich darüber abrechnen. Sollte das nicht der Fall sein, bleibt noch der Täter. Die Anwaltskosten gehören zum… na ja, Schaden.
Und wenn beim Täter nichts zu holen ist… Tja, dann…«
»Was dann?«
Rainer schluckte. »Dann ist mein Honorar durch Ihren Vater bereits gezahlt worden.« Jetzt war es raus. Wenn er so weitermachte, konnte er finanziell einpacken. Den Mazda würde er fahren müssen, bis der TÜV anderer Auffassung war.
Und die neue Praxis nebst Sekretärin auf der Bahnhofstraße in Herne oder in der Bochumer City hatte sich erledigt. Er konnte froh sein, wenn er die Miete für sein Büro würde bezahlen können. Aber immerhin, er hatte Prinzipien: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
»Ich rede mit meiner Mutter.« Ruth Pawlitsch stand auf und verließ Rainer. Er beobachtete, wie sie leise mit Paula Pawlitsch und einem älteren Mann mit langem, silberweißem Haar sprach. Die drei sahen mehrmals zu ihm herüber. Dann stand der schlanke Mann auf und näherte sich langsam Rainers Platz.
»Ich denke, wir beide sollten uns etwas unterhalten, Herr Esch. Ihr Name ist doch Esch, oder?«
»Ja, das stimmt. Und wer sind Sie?«
»Na, dann kommen Sie«, antwortete der Weißhaarige. Er griff sich einen grünen Lodenmantel von der Garderobe und verließ, ohne auf Rainer zu warten, die Gaststätte. Esch schnappte sich seinen Trench, warf ihn sich über den Arm und folgte dem Mann nach draußen. Der Schneeregen und die kalten Temperaturen ließen Rainer erschauern. Er zwängte sich in seinen Mantel. Der ältere Mann drehte sich um und zeigte auf einen Musikpavillon am Ende des kleinen Platzes vor der Gaststätte. Rainer erinnerte das Ding entfernt an einen aufgeschnittenen Tennisball. »Im Sommer finden dort manchmal Konzerte statt. Wenn der Schrebergartenverein sein Jahresfest macht. Waren Sie schon einmal hier?«, fragte er.
»Nein, noch nie. Ich kenne nur das Hinweisschild an der Schadeburgstraße.«
»So? Lassen Sie uns ein paar Meter gehen, die frische Luft tut mir gut.«
Erneut ließ er Esch einfach stehen. Rainer beeilte sich, mit dem Mann Schritt zu halten.
»Und wer sind Sie?«, fragte der Anwalt, als er mit seinem Begleiter endlich aufschloss.
»Ich heiße Siegfried Kattlowsky. Ein alter, leider schon zu alter Freund der Familie Pawlitsch.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Mit Ihnen reden. Sie möchten Paula und Ruth Pawlitsch also anwaltlich zur Seite stehen?«
»Ja.«
»Und warum so uneigennützig?«
»Ich habe Jura studiert, weil ich der Auffassung war, so etwas gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt tun zu können.
Deshalb…« Bevor er den Satz beendet hatte, wurde ihm schlagartig klar, wie schwachsinnig sich das anhören musste.
Dummes Gelaber!
Der Alte schien es aber nicht zu registrieren. »Der Auffassung war? Dieser Meinung sind Sie heute nicht mehr?«
»Doch, sicher. Aber die anwaltliche Praxis sieht anders aus: Verkehrsunfälle, Schadenersatzforderungen oder Mahnschreiben wegen unbezahlter Rechnungen. Dafür habe ich eigentlich nicht studiert. Ich wollte…«
»… die Welt verändern?«, ergänzte Kattlowsky den Satz.
»Vielleicht. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so.«
»Brecht«, bemerkte der Freund der Familie Pawlitsch lakonisch. »Ungefähr Brecht. Das menschliche Verhalten ist aber veränderbar. Auch heute noch. Oder glauben Sie auch daran nicht mehr?«
Esch hatte den Eindruck, dass Kattlowsky nicht unbedingt eine Antwort erwartete. Also schwieg er.
Unvermittelt wechselte der Alte das Thema. »Riechen Sie das?« Siegfried Kattlowsky hob schnüffelnd den Kopf.
»Briketts. Aus Steinkohle. Früher roch es im Revier im Winter überall so. Heute haben wir Fernwärme, Gas oder Öl.« Eschs Begleiter schüttelte wehmütig den Kopf. »Riecht man heute kaum noch. Selbst nicht mehr in der Teutoburgia-Siedlung da vorne. Obwohl dort fast nur Bergleute wohnen. Alles Fernwärme. Nur hier verfeuern die Schrebergärtner neben Holz noch Kohle. Schade.
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