Zweyer, Jan - Rainer Esch 01
nüchtern. Im Manos tönte ein grundehrlicher Blues aus den Boxen. Auch die Stones haben den Blues, dachte Esch und trank den Rest Weißwein aus seinem Glas in einem Zug. Gerade wollte er Stefanie fragen, ob er noch eine Flasche bestellen sollte, da wandte sie sich ihm zu.
»Hör mal. Das ist aber schön«, freute sie sich.
»Was? Diese Schmonzette?« Rainer fiel fast das Glas aus der Hand.
»Mann, ist ja gut. Auch die Beatles haben tolle Songs gemacht. Gerade die frühen Sachen. Und mir gefällt ›I want to hold your hand‹ eben. Du machst ja in selffulfilling prophecy.
Mit ›I can’t get no satisfaction‹ redest du dir eine vorgezogene Midlife-crisis geradezu ein.« Stefanie war wirklich wütend.
»Neben den Stones gibt es auch was anderes, wenn du’s nicht gemerkt haben solltest.«
Da war er schon, der erste Krach.
»Okay. War scheiße. Trinkst du noch einen mit?« fragte er versöhnlich und bestellte nach ihrem zustimmenden Nicken noch eine Flasche Samena.
24
Cengiz Kaya sah zum dritten Mal an diesem Samstag morgen auf die Einladung:
Takeoff
Innovative Investments für intelligente Investoren Geschlossene Anteilseignerversammlung
Samstag, den 15. Oktober 1996,10.00 Uhr, Einlaß ab 9.30
Uhr. Kulturzentrum Herne
Tagesordnung
1. Eröffnung und Begrüßung durch den Vorsitzenden der Hauptversammlung, Herrn Dieter Fasenbusch 2. Bericht über die wirtschaftliche Entwicklung in der Hard-und Softwareindustrie Lateinamerikas, Herr Prof.
Dr. Guacho, Universität Ecuador
3. Bericht über die Beteiligungsunternehmen, Herr Dieter Fasenbusch
4. Gemeinsamer Mittagsimbiß
Diese Einladung gilt als Eintrittskarte. Sie ist beim Betreten des Veranstaltungsortes an der Eingangskontrolle vorzulegen.
Die Veranstaltung ist nicht öffentlich. Die Einladung ist nicht übertragbar.
gez. Der Vorstand
Kaya zog sich Jeans und sein neues dunkles Sakko an und machte sich gegen neun auf den Weg ins Kulturzentrum der Stadt Herne, das sinnigerweise KuZ abgekürzt wurde. Cengiz folgte der Mont-Cenis-Straße und kreuzte in Höhe des City Centers, einer Bausünde aus den siebziger Jahren, die Bahnhofstraße am oberen Ende der Fußgängerzone.
Seit einigen Monaten tobte in der einzigen Lokalzeitung, über die Herne verfügte – sofern man von den Wochenend-Werbeblättchen mal absah –, ein Streit von überwiegend selbsternannten Experten über die zukünftige Gestaltung der Herner Innenstadt, speziell die der Fußgängerzone. Einig waren sich die meisten Leserbriefschreiber und auch Lokalreporter immerhin darin, daß die Verkaufspavillons, die die Straße zierten, ersatzlos abgerissen werden müßten. Dies würde zumindest die Inlineskater freuen, die dann noch mehr Platz für ihr Hobby inmitten von einkaufenden Herner Bürgern finden würden.
Die Bahnhofstraße war, obwohl das Wetter mitspielte, um diese Zeit noch so tot wie nach acht Uhr abends. Cengiz ließ das relativ neu gebaute Kaufhaus von C & A rechts liegen und erreichte nach dem Überqueren eines Parkplatzes das KuZ, das mit dem Charme einer Wanderdüne an einer Straßenecke lag.
Ähnlich wie der Palast der Republik in Berlin hatte es auch im KuZ Probleme mit asbestverseuchten Bauteilen gegeben; in Herne waren die Stadtväter zu der zugegeben kostengünstigeren Entscheidung gelangt, das Bauwerk nicht abzureißen, obwohl es dem Stadtbild sicher gutgetan hätte. So hatte Cengiz es noch am Morgen in der WAZ gelesen.
Andererseits, der Türke blickte sich um, waren das Schwimmbad gegenüber, das Hochhaus mit der aparten Zündkerze auf dem Dach und der grüne Klotz von gut zwei Dutzend Stockwerken Höhe hinter der Fußgängerzone nun auch nicht gerade das, womit Städteplaner und Architekten in den neunziger Jahren Preise gewinnen würden. Unter diesem Aspekt hätte der Abriß des KuZ auch nicht viel geändert. Die Entscheidung der Stadtväter, der Not leerer Kassen gehorchend, das Gebäude zu sanieren, erschien Cengiz deshalb nachvollziehbar. Er hatte aber den dumpfen Verdacht, daß diese das KuZ auch bei ausreichenden Geldmitteln für schön und erhaltenswert gehalten hätten.
Kaya folgte einigen anderen Leuten, von denen er hoffte, daß sie ebenfalls zur Veranstaltung von Take off wollten, die Treppe hinunter zu einer mehrflügeligen Tür, von der nur ein Teil geöffnet war. So waren die Besucher gezwungen, das Gebäude hintereinander zu betreten. Im Windfang zwischen den zwei Glastüren stand ein grobschlächtig wirkender Mann, bekleidet mit einem
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