Zweyer, Jan - Rainer
Kratzer am Heck eines unvermittelt vor ihm bremsenden neuen Mercedes verursacht hatte.
Rainer hatte sich in sein Büro zurückgezogen und überlegt, den Rest seiner Arbeitszeit in einem Herner Straßencafé zu verbringen, um dort verantwortungsvollen Aufgaben nachzugehen: ein kühles Bier trinken und den Kicker lesen.
Ihm war nur noch nicht ganz klar gewesen, wie er das Elke erklären sollte. Seine Freundin hatte ihm diese Entscheidung abgenommen. Sie war mit zwei Ordnern, die Rainer sofort wegen ihrer knallroten Signalfarbe identifizieren konnte, unter dem Arm in sein Büro gekommen. Die Steuerordner.
Nach einer Schrecksekunde hatte er Elke gefragt: »Sollen die Dinger jetzt bei mir in den Schrank?«
Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. »Der Steuerberater hat uns schon zum dritten Mal geschrieben. Du hast deine Abrechnung vom letzten Jahr immer noch nicht gemacht.« Sie beugte sich zu ihm herunter und drückte Rainer einen Kuss auf die Stirn. Dann entzog sie sich seinem Griff. »Erst die Arbeit…«
Rainer war gern Anwalt, aber nur ungern Unternehmer.
Leider war das eine nicht ohne das andere zu haben. So hockte er jetzt vor einem Berg von Kontoauszügen und ordnete die Buchungen fluchend und zähneknirschend Rechnungen zu, die vor mehr als einem Jahr geschrieben worden waren.
Um zwei Uhr nachmittags war der Stapel nur unwesentlich kleiner geworden. Wenn es sich bei jeder Rechnung um vierstellige Beträge gehandelt hätte, wäre die Arbeit leichter zu ertragen gewesen. Nur leider beliefen sich die Honorare selten auf mehr als zwei-, dreihundert Euro. Der Durchschnitt lag bei knapp einhundertfünfzig Schleifen. Nicht gerade überwältigend. Wenn Elke und ihre guten Kontakte zu Recklinghäuser Geschäftsleuten nicht gewesen wären, hätte Rainer schon längst das Handtuch werfen und wieder als Taxifahrer arbeiten müssen. In Momenten wie diesen war er sich nicht einmal sicher, ob das nicht erstrebenswerter war.
Martina Spremberg öffnete die Tür. »Eine Arbeitsrechtssache. Unangemeldet. Übernimmst du?«
Mit einem erleichterten Seufzen klappte Rainer die Aktenordner zu. »Klar. Hilf mir bitte, die Sachen hier wegzuräumen.«
Rainers neue Mandantin war etwa Anfang vierzig, vollschlank und wirkte sehr gepflegt.
»Mein Name ist Margit Krämke.« Ihr Händedruck hätte jedem Bauarbeiter zur Ehre gereicht. »Ich bin, nein: Ich war bis Freitag letzter Woche in der Neukreuz-Apotheke in Bochum beschäftigt.«
Rainer kannte den Laden. Eine große Apotheke im Ruhr-Park, dem Einkaufszentrum auf der grünen Wiese zwischen Bochum und Dortmund.
»Am Freitag hat mein Chef mir die Kündigung in die Hand gedrückt. Einfach so. Nach über zwanzig Jahren. Kann der das so einfach machen?« Sie schob ihr Kinn energisch vor.
»Sind Sie rechtsschutzversichert?«, fragte Rainer im Gegenzug, weil er das Grundprinzip einer halbwegs ökonomisch arbeitenden Anwaltskanzlei mittlerweile von Elke gelernt hatte: Ohne Schuss kein Jus.
»Natürlich.« Die Frau kramte in ihrer Handtasche und schob schließlich mehrere zusammengefaltete Schreiben über den Tisch. »Meine Versicherungspolice. Und die Kündigung.«
Rainer warf einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen und zog die Augenbrauen hoch. Seine neue Mandantin war bei einer Gesellschaft versichert, mit der ihre Sozietät keine besonders guten Erfahrungen gemacht hatte. Von wegen des Anwalts Liebling!
Das Kündigungsschreiben war ebenso knapp wie nichts sagend. Sehen wir uns aus wirtschaftlichen Gründen leider gezwungen, das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis zum…
»Wie viele Beschäftigte arbeiten in der Apotheke?«, erkundigte er sich.
»Sieben.«
»Mit dem Inhaber?«
»Ja. Und seiner Frau.«
Auch das noch. Die mitarbeitende Ehefrau des Inhabers. War diese nun Belegschaftsmitglied oder nicht? Davon hing es ab, ob die für das Kündigungsschutzgesetz relevante Beschäftigungszahl von fünf erreicht wurde.
»Hat die Frau des Inhabers ein Gehalt bekommen?«
»Is das wichtig?«
Rainer nickte.
»Ich glaube, ja.«
Also fünf. Das Kündigungsschutzgesetz griff. »Hat bei Ihrer Kündigung eine Sozialauswahl stattgefunden?«
»Eine was?« Margit Krämke sah ihn entgeistert an.
Aha. Vermutlich keine Sozialauswahl. Das erleichterte das Verfahren erheblich. Zwanzig Beschäftigungsjahre. Das machte etwa zehn Monatsgehälter als Abfindung. Das wären als Streitwert…
»Wie viel haben Sie verdient?«
»Zwei brutto.«
Zwanzigtausend Euro Abfindung. Fünf
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