Zweyer, Jan - Rainer
nicht. Deshalb haben sie es am Wochenende versucht. Es war nicht beabsichtigt, dass unser Haus wirklich in die Luft flog. Darum haben sie auch bei der Feuerwehr angerufen. Nein, sie wollen die Kuh, die sie melken, nicht schlachten. Nur gibt die Kuh keine Milch mehr.
Jedenfalls nicht für sie. Kapierst du?«
Ihr Mann antwortete nicht.
Seine Frau seufzte. »Ich erkläre es dir. Zunächst eine Frage: Glaubst du, diese Leute sind skrupellose Killer?«
»Nein.«
»Eben. Jetzt aber haben sie einen Menschen auf dem Gewissen. Sie, nicht wir.« Sie tippte mit dem Zeigefinger mehrmals an seine Stirn. »Geht das in deinen Schädel?«
»Aber…«
»Wir wissen, was geschehen ist. Nicht aber die Polizei. Und wenn unsere Freunde wollen, dass das auch zukünftig so bleibt, sollten sie uns besser in Ruhe lassen. Sag ihnen das, wenn sie anrufen.« Sie kippte den Rest ihres Getränkes auf ex.
»Du meinst, das funktioniert?«
»Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue. Mach mir bitte noch einen, ja?« Sie streckte ihm fordernd ihr leeres Glas entgegen.
Er stand auf und mixte den Drink. Dann setzte er sich wieder.
Maria Lehmann rückte näher zu ihrem Mann und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
Er schüttelte den Kopf, ließ sie aber gewähren: »Du hast wirklich zu viel getrunken.« Trotzdem lehnte er sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Dann straffte er sich, schob seine Frau von sich fort und stieß hervor: »Du hältst mich für einen Schwächling, nicht wahr?«
»Spielt das jetzt eine Rolle?« Ihre linke Hand rutschte tiefer.
»Für mich sicher. Du benutzt mich doch nur.«
Sie unterbrach ihre Anstrengungen und blickte ihn spöttisch an. »Na, und wenn schon. Das beruht schließlich auf Gegenseitigkeit, oder? Außerdem bist du als Liebhaber nicht schlecht. Besser jedenfalls als viele andere.« Maria Lehmann zog ihren Mann zu sich herüber, streckte sich wohlig und griff zum Gin-Tonic. Dann schob sie seinen Kopf zwischen ihre Schenkel.
16
Die Leusbergstraße gehörte nicht gerade zu den besten Wohngegenden in Recklinghausen-Süd. Die alten Zechenhäuser auf der rechten Straßenseite warteten auf ihre Renovierung und auch die Mehrfamilienhäuser gegenüber waren nicht unbedingt erste Wahl. Esch musste nicht lange suchen, bis er das Haus fand, in dem sein verstorbener Mandant mit seinem Bruder gewohnt hatte. Die dreckig gelbe Hausfassade blätterte an einigen Stellen ab und fügte sich so harmonisch in die Tristesse der ganzen Straße ein.
Der Anwalt sah auf seine Uhr. Kurz nach sechs. Noch nicht zu spät für einen unangemeldeten Besuch. Er schellte. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Haustür öffnete.
»Ja?«, fragte ein übergewichtiger und aufgedunsener Mittvierziger, der auf den ersten Blick nur wenig Ähnlichkeit mit Horst Mühlenkamp hatte. Der Mann war bekleidet mit einer blauen Jogginghose und einem weißen, leicht verschmutzten T-Shirt, welches einen aparten Blick auf den überquellenden Bauchansatz bot. Seine Füße zierten hellgrüne Badelatschen. Er trug einen ungepflegten Drei-Tage-Bart, hatte eine Kippe im Mundwinkel und musterte Rainer gelangweilt.
»Wat woll’n Se?«
»Sind Sie Paul Mühlenkamp?«
»Wer will dat wissen?«
Rainer Esch reichte ihm seine Visitenkarte. Der Speckbauch studierte die Karte gründlich und streckte sie dann wieder dem Anwalt entgegen. »Und?«
»Herr Mühlenkamp?«
Der Mann nickte. »Jetzt wissen Se, wer ich bin. Un ich weiß, wer Sie sind. Nur weiß ich immer noch nich, wat Se von mir woll’n. Also?«
»Ihr Bruder war mein Mandant. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
»Worüber?«
»Über seine Erbschaftsangelegenheit.«
Für einen Moment glaubte Rainer, dass ihm sein Gegenüber die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Dann aber sagte Paul Mühlenkamp: »Na gut. Kommen Se. Is abba nich aufgeräumt.«
Er ging einen Schritt zur Seite und ließ den Anwalt eintreten.
Den Flur beherrschte dieser typische Geruch alter Häuser: eine Mischung aus Modder und abgestandenem Kohl. Trotzdem blieb Esch einen Moment überrascht stehen. Das hatte er nicht erwartet. Von innen machte die Bleibe einen besseren Eindruck als von außen. Laminatboden, moderne Grafiken in Wechselrahmen an der weiß gestrichenen Wand. Im Vorbeigehen warf der Anwalt einen Blick in die Küche. Helle Buche, modernes Equipment.
Im Wohnzimmer lief der Fernsehapparat. Mühlenkamp hatte sich die Aufzeichnung eines Fußballspiels der italienischen ersten Liga angesehen, bis er
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