Zweyer, Jan - Rainer
beantragen.«
»Sie haben schon einen Erbschein beantragt?« Rainer war wirklich verblüfft. Mühlenkamp wusste erst seit gestern vom Tod seines Bruders. Da schien er es aber wirklich eilig gehabt zu haben.
Mühlenkamp interpretierte Rainers Mimik richtig. »Wat denn! Ich will die Hütte verkaufen un ‘ne Kneipe im Süden aufmachen. Mallorca oder so. Noch nich ma dat Pflichtteil.« Er schüttelte den Kopf. »Kann man da nichts machen?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Na, mit dem Testament.«
Der Anwalt brauchte einen Moment, um zu kapieren. »Sie wollen das Testament Ihres Bruders anfechten?«
»Warum nicht?«
Esch stand auf. »Ich glaube nicht, dass ich dafür der richtige Gesprächspartner bin.«
»Abba Se sind doch Rechtsanwalt, oder?«
»Ja. Aber der Ihres verstorbenen Bruders.«
»Na und? Bleibt doch inne Familie.«
Rainer verzichtete darauf, Mühlenkamp die anwaltlichen Standesregeln zu erläutern. »Lassen Sie nur«, sagte Esch zu Paul Mühlenkamp, als der ihn zur Tür begleiten wollte. »Ich finde schon selbst hinaus.«
»Wie Se meinen.« Mühlenkamp schnappte sich die Fernbedienung.
17
Am Donnerstagmorgen lagen die Auskunft der Schufa und der Gerichtsbeschluss, der den Zahnarzt Bauers von seiner Schweigepflicht entband, endlich auf Baumanns Schreibtisch.
Der Kommissar blätterte in den Unterlagen. Die Angaben der Apothekerfamilie entsprachen der Wahrheit: Ihr Privathaus war fast schuldenfrei, nur das Gebäude in der Schulstraße war mit einer Hypothek belastet, die aber regelmäßig getilgt wurde.
Die Fahrzeuge der Eheleute waren geleast. Andere Verbindlichkeiten gab es nicht.
Baumann grinste schief. Er wäre froh gewesen, wenn sich seine finanzielle Lage ebenso wohl geordnet wie die der Lehmanns darstellen würde. Er stotterte immer noch die Waschmaschine ab und auch die Schrankwand war noch nicht vollständig bezahlt – trotz dieser so genannten Leichtkaufraten.
Sein Gehalt reichte vorne und hinten nicht. Gleichzeitig wurde der Berg nicht bezahlter Überstunden immer größer. Zwar war er bis jetzt sauber geblieben, aber irgendwie konnte er nachvollziehen, warum der eine oder andere Kollege manchmal die Hand aufhielt und dafür ein oder auch zwei Augen zudrückte.
Er legte die Schufa -Auskunft zu den anderen Unterlagen und verstaute den Bericht der Gerichtsmedizin in einer Aktentasche, um dem Zahnarzt Semering in Suderwich einen Besuch abzustatten.
»Herr Doktor muss noch zwei dringende Behandlungen durchführen, dann hat er Zeit für Sie.«
Die Sprechstundenhilfe in der kleinen Zahnarztpraxis beugte sich wieder über ihre Karteikarten.
»Ich brauche nur fünf Minuten. Könnte ich nicht eben zwischendurch…?«
Baumann fühlte sich unwohl. Er hatte seit seiner Kindheit Angst vorm Zahnarzt und wollte dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Die junge Frau sah auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Notfälle. Sie verstehen?« Die Arzthelferin lächelte. »Es dauert wirklich nicht lange. Nehmen Sie bitte so lange im Wartezimmer Platz.«
Der Kommissar gab klein bei und gesellte sich zu den wartenden Patienten, von denen die meisten ein Gesicht machten, als ob sie in Kürze aufs Schafott geführt werden würden. Das konnte er nachfühlen. Auf dem Weg zu der Zahnarztpraxis hatte seine Zungenspitze immer wieder das Loch untersucht, das seit Monaten in seinem rechten Backenzahn wuchs und sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, aber heftigen Schmerz meldete. Und ausgerechnet jetzt nahm das Ziehen und Pochen in seinem Kiefer wieder zu. Der Polizist griff zu einer Illustrierten und blätterte darin, um sich etwas abzulenken. Erfolglos. Resigniert legte er die Zeitschrift wieder zur Seite. Das Ziehen im Backenzahn wurde stärker.
Ein psychosomatischer Phantomschmerz, dachte er.
»Frau Bülling, bitte.«
Durch die geöffnete Tür konnte der Kommissar einen Blick in das Behandlungszimmer werfen, in dem die Patientin verschwand. Weiße Kacheln, grelle Neonlampen. Und dann dieser Stuhl!
Die Tür schloss sich wieder und einige Momente später zerschnitt das Kreischen des Bohrers die Stille. Baumann schwor sich: Wenn dieser Fall abgeschlossen war, würde er sich unverzüglich behandeln lassen und dann natürlich auch regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gehen. Möglicherweise gab es in Recklinghausen einen Zahnarzt, der schon mit Laser arbeitete. Dann müsste er nicht diese schrecklichen Bohrgeräusche ertragen. Eigentlich hatte er ja keine Angst vor
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