Zweyer, Jan - Rainer
Hausfriedensbruch stand Knast bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe. Aber so, wie es aussah, hatte Horst Mühlenkamp seiner Freundin den Schlüssel freiwillig überlassen. Außerdem war sie schließlich fast schon die Erbin.
Da konnte von widerrechtlichem Eindringen nicht die Rede sein. Hoffte er zumindest.
»Hier ist er ja.«
Sabine Schollweg schloss die Haustür auf und betrat das Haus. Zögernd folgte ihr Rainer. So ganz sicher war er sich seiner Rechtsauslegung nun doch nicht.
»Horst wohnte im ersten Stock. Sein Bruder hier unten«, erklärte Sabine und zeigte auf die Tür, die der Anwalt schon kannte. Dann stieg sie zügig die Treppe hoch.
»Ich weiß«, murmelte Rainer und ging ihr nach.
Vor der oberen Wohnung stand seine Mandantin mit dem Gesicht zur Tür, Rainer den Rücken zugewandt. Mit schwacher Stimme sagte sie: »Ich… ich glaube nicht, dass ich… Ich möchte nicht…«
Erleichtert antwortete Rainer: »Dann lassen Sie uns gehen.«
»Nein, bitte. Ich kann nur nicht… Bitte gehen Sie als Erster hinein. Ich habe Angst, die Wohnung zu betreten. Die Erinnerungen – es ist alles noch so frisch.« Sabine Schollweg warf Rainer einen flehenden Blick zu und reichte ihm den Schlüsselbund.
»Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient«, seufzte Rainer, öffnete die Wohnungstür und betrat den Flur. Die Luft roch etwas abgestanden. Hier war schon seit Tagen nicht mehr gelüftet worden.
»Die Unterlagen sind in seinem Arbeitszimmer. Die zweite Tür links«, flüsterte die junge Frau, die am Eingang stehen geblieben war.
»Sie sollten besser mitkommen«, forderte Rainer. »Sie finden die Papiere doch viel schneller als ich.«
»Ich kann wirklich nicht.« Ihre Stimme war kaum zu hören.
»Irgendwo in den Regalen steht ein roter Aktenordner. Darin bewahrte Horst alles auf.«
»Verstehe.« Rainer folgte ihren Angaben und betrat das Arbeitszimmer. Er sah sich um. Der Raum war klein, höchstens acht oder neun Quadratmeter groß. Vor dem Fenster thronte ein alter, wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz, der fast die gesamte Breite des Raumes in Anspruch nahm. Eiche, vermutete der Anwalt. Der Schreibtisch wirkte seltsam aufgeräumt, so als ob dort schon seit Wochen niemand mehr gesessen und gearbeitet hätte. An den anderen Wänden des Zimmers standen die Aufbewahrungsmöbel: Billy-Regale, Produkte des Möbelhauses mit dem Elch.
Mühlenkamp schien ein begeisterter Leser von Fantasy-und Gruselromanen gewesen zu sein. Das Regal an der rechten Wand war voll mit Büchern von Stephen King und anderen Vielschreibern. Besonders auffällig war eine beeindruckende Sammlung von Karl-May-Romanen, die Bände mit grünbraunen Buchdeckeln und goldfarbigem Aufdruck. Rainer zählte überschlägig gute zwei Dutzend der Abenteuergeschichten, mehr als er selbst jemals besessen hatte. Mit der beginnenden Pubertät hatte Esch seine Sammlung gegen einige Playboy-Hefte eingetauscht, was er heute bedauerte.
Ein roter Aktenordner fand sich jedoch in keinem der Regale.
»Hier ist nichts«, rief er nach draußen.
»Sehen Sie im Schreibtisch nach«, antwortete seine Mandantin.
Rainer wurde das Gefühl nicht los, etwas Unrechtes zu tun: Er drang – wie er fand – unerlaubt in die Privatsphäre eines Menschen ein, den er noch dazu kaum gekannt hatte. Obwohl er es besser wusste, erwartete er jeden Moment, einen wütenden Horst Mühlenkamp in der Tür stehen zu sehen.
Trotzdem beugte er sich nach unten und öffnete eine der Schreibtischtüren. Und tatsächlich befand sich da ein roter Aktenordner. Unterlagen stand handschriftlich auf dem Rücken. Der Anwalt zog den Hefter heraus und legte ihn auf die Schreibtischplatte.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden.« Er klappte den Deckel auf.
»Bringen Sie ihn mir«, forderte Sabine Schollweg.
»Einen Moment.« Rainers Blick blieb auf der ersten Seite hängen.
Ein Werbeblatt der FürLeben GmbH. Hastig überflog er den Text. Er wusste nicht, ob er angesichts des Schwachsinns, den er da las, lachen oder weinen sollte. Sogar der schwule Küchenfetischist, stand da, der sein Leben lang von einer edlen Küche in Porsche-Rot geträumt hatte, konnte seinen Traum verwirklichen. Ein Problem hatte nur sein Partner, der musste ihn nämlich Nacht für Nacht aus ihr herauszerren.
Kopfschüttelnd klappte Rainer den Ordner zu und ging zurück zu seiner Mandantin.
»Ja, das ist er«, sagte sie und wollte nach dem Teil greifen.
»Jetzt können wir gehen.«
Esch rückte den Ordner nicht
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