Zweyer, Jan - Rainer
versuchte Baumann das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Ja. Es wurden Spuren von Atracuriumbesilat gefunden.«
Baumann kratzte sich am Kinn. »Das ist was?«
Der Hauptkommissar griff zu seinen Notizen. »Ein…«, er zögerte, »… es gehört zur Gruppe der nicht depolarisierenden Muskelrelaxantien.«
»Aha.«
»Das sind Mittel, die zur Muskelentspannung eingesetzt werden. Ist sinnvoll zum Beispiel zur Erleichterung der künstlichen Beatmung auf Intensivstationen oder während chirurgischer Eingriffe. Wird auch häufig bei einem Kaiserschnitt benutzt.«
»Und?«
»Wäre Mühlenkamp einige Stunden später gefunden worden, hätten die Pathologen das Zeug nicht mehr nachweisen können. Es zersetzt sich im Körper sehr schnell.«
Baumann verstand immer noch nicht. »Was…?«
»Hoch dosiert kann es zu einer vollständigen Muskelerschlaffung führen, sagt der Arzt.«
Baumann erinnerte sich an die Übungen zur Lockerung der Muskulatur vor sportlichen Betätigungen. »Ist das denn gefährlich?«
»Das Herz ist ein Muskel«, erklärte Brischinsky weiter. »Und wenn der vollständig erschlafft…«
Jetzt kapierte Baumann. »Infarkt?«
»So ist es. Oder Lähmung der Atemmuskulatur. Dann erstickt man. Was auf dasselbe hinausläuft. Atracuriumbesilat wird als Injektion in eine Vene oder als Infusion verabreicht. Das Mittel wird hauptsächlich in Krankenhäusern eingesetzt und ist natürlich rezeptpflichtig.«
»Hat denn Mühlenkamp das Medikament in einer tödlichen Dosis erhalten?«
»Das ist möglich, aber nicht sicher. Vielleicht ist er einfach damit behandelt worden.«
»Vermutlich bei einem Kaiserschnitt«, scherzte Baumann.
»Sehr komisch. Auch jede andere Operation scheidet aus.
Der Eingriff hätte Spuren hinterlassen, die noch nicht geheilt sein können. Die wurden aber nicht gefunden. Möglich wäre, dass das Mittel zur leichteren Einführung eines Intubators genutzt wurde.«
Baumann sag Brischinsky fragend an.
»Künstliche Beatmung während einer Vollnarkose«, erklärte der.
»Schon klar. Aber ich dachte, die gibt’s nur bei Operationen?«
»Eigentlich schon. Aber manchmal wird so ein Teil auch bei komplizierten Untersuchungen eingesetzt, meint der Arzt.«
»Und jetzt?«
»Jetzt machen wir Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.
Zisch schon ab, ich nehme mir ein Taxi.«
Auf dem Weg zu seinem Wagen staunte Baumann immer noch über Brischinskys ungewöhnlich friedfertiges Verhalten. Die einzig denkbare Erklärung war: Die Ärzte im Krankenhaus hatten seinem Chef irgendetwas verabreicht. Etwas gegen starke Erregungszustände und Spannungen. Etwas, was zur Erschlaffung und Entspannung führte. Etwas wie dieses Atracuriumbesilat. In ziemlich hoher Dosierung.
26
Rainer nahm die Kassette aus dem Diktiergerät und legte sie auf den Stapel mit den Unterlagen, die Martina später abarbeiten würde. Er fingerte eine Reval aus der zerknitterten Schachtel und steckte sie an. Dann lehnte er sich im Sessel zurück, platzierte seine Füße auf dem Schreibtisch, schloss die Augen und dachte nach. Sabine Schollwegs Verdacht gegen FürLeben ließ ihm keine Ruhe. War Horst Mühlenkamp wirklich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen?
Um Klarheit zu erlangen, musste er bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Akteneinsicht beantragen. Das war aber erst möglich, wenn ihn Paul Mühlenkamp dazu bevollmächtigt hatte.
Rainer versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wenn Horst Mühlenkamp wirklich ermordet worden war – wer könnte ein Interesse an seinem Tod gehabt haben?
Da war zuerst der Bruder, Paul Mühlenkamp. Aber hatte der wirklich ein Motiv? Die Brüder hatten zwar eine Hypothek auf ihr gemeinsames Erbe aufnehmen müssen, um Horsts Ausbildung zu finanzieren. Diese Schulden mussten aber sowieso bezahlt werden. Daran änderte auch der Tod eines der beiden nichts. Und das Geld aus den Aktiengewinnen? Rainer glaubte nicht, dass Paul Mühlenkamp davon gewusst hatte.
Horst hatte auch Sabine Schollweg nicht alles über seine Aktienspekulationen erzählt. Natürlich war es möglich, dass Paul Mühlenkamp ihn in diesem Punkt angelogen hatte. Rainer hatte in ihrem Gespräch jedoch nicht den Eindruck gehabt, dass das der Fall gewesen war. Das galt auch für Sabine Schollweg. Auch von ihr nahm er an, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Und schließlich hatte sie generös auf den ihr zustehenden Anteil an dem Haus verzichtet. Verhielt sich so jemand, der aus Habgier handelte? Das konnte
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