Zwielicht
Anstalt zu bringen, angeblich zu meinem eigenen Besten! Damals war ich elf Jahre alt, und ich begriff, daß Menschen genauso viele Schichten haben wie Zwiebeln, und daß man gut daran tut zu überprüfen, ob alle Schichten so unverdorben und gut sind wie die oberste, bevor man mit jemandem Freundschaft schließt. Verstehst du?«
»Ja. Aber welches Geheimnis hätte ich denn deiner Meinung nach unter dem Geheimnis, daß ich Trolle sah und umbrachte, verbergen können?«
»Ich wußte es nicht, aber ich hielt alles für möglich und behielt dich deshalb im Auge. Und vorhin, als es so aussah, als würde die Kreatur mit dem Knüppel dich erledigen, hatte ich mir noch immer keine endgültige Meinung über dich gebildet.«
»Allmächtiger Himmel!«
»Aber mir war klar, daß ich schnell handeln mußte, wenn ich einen potentiellen Verbündeten und Freund nicht verlieren wollte. Und Freunde und Verbündete — deiner Kategorie sind auf dieser Welt nicht leicht zu finden.«
Als wir uns der Rückseite des großen Zeltes näherten, das ›Sabrinas Geheimnisse des Nils‹ beherbergte, eine ägyptisch angehauchte Tanzshow, blieb Joel stehen und legte mir eine große Hand auf die Schulter. »Es könnte heute nacht noch Ärger geben, falls die sechs zu einer bestimmten Zeit in Yontsdown zurückerwartet wurden. Vielleicht solltest du lieber in meinem Wohnwagen schlafen. Meine Frau hätte bestimmt nichts dagegen. Wir haben nämlich so eine Art Gästezimmer.«
Ich hatte bisher nicht gewußt, daß er verheiratet war, und mußte beschämt feststellen, daß es mit meiner vorurteilsfreien Einstellung gegenüber Menschen mit irgendwelchen Abnormitäten doch noch nicht allzuweit her war, denn diese Neuigkeit bestürzte mich unwillkürlich.
»Was hältst du davon?« fragte er.
»Ich glaube nicht, daß heute nacht noch irgendwas passiert. Aber falls es doch der Fall sein sollte, muß ich Rya beistehen.«
Nach kurzem Schweigen fragte er: »Ich hatte recht, nicht wahr?«
»In welcher Hinsicht?«
»Daß du in sie verliebt bist.«
»Es ist mehr als bloße Verliebtheit.«
»Du... liebst sie?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und bist du auch sicher, daß du den Unterschied zwischen Liebe und Verliebtheit kennst?«
»Verdammt, was soll diese Frage?« erwiderte ich, nicht direkt verärgert, aber doch etwas frustriert.
»Entschuldigung«, lenkte er ein. »Du bist kein normaler Siebzehnjähriger. Du bist kein Junge mehr. Mit solchen Erfahrungen, wie du sie schon gemacht hast, ist man kein Junge mehr. Das darf ich nicht vergessen. Ich nehme an, du weißt, was Liebe ist. Du bist ein Mann.«
»Ich bin ein Greis«, murmelte ich müde.
»Liebt sie dich?«
»Ja.«
Er schwieg längere Zeit, ließ seine Hand aber auf meiner Schulter liegen, so als wollte er mich zurückhalten, bis er die richtigen Worte für eine wichtige Mitteilung finden würde.
»Was ist los?« erkundigte ich mich. »Was macht dir Sorgen?«
»Wenn du sagst, daß sie dich liebt... ich nehme an, daß du nicht einfach ihren Worten glaubst, sondern es mit deinem sechsten Sinn — oder wie man deine Gaben auch immer nennen soll — spüren kannst?«
»Ganz recht«, antwortete ich, ohne mir erklären zu können, warum meine Beziehung zu Rya ihn so interessierte. Irgendwie spürte ich, daß mehr dahintersteckte als Neugier und Indiskretion. Außerdem hatte er mir schließlich das Leben gerettet. Deshalb bemühte ich mich, eine leichte Gereiztheit sofort im Keime zu ersticken. »Mein sechster Sinn sagt mir tatsächlich, daß sie mich liebt. Zufrieden? Aber ich wäre mir ihrer Gefühle auch ohne diesen sechsten Sinn sicher.«
»Wenn du sicher bist...«
»Das sagte ich doch soeben.«
Er seufzte. »Ich entschuldige mich noch einmal. Es ist nur... Mir ist an Rya Raines immer eine... wie soll ich sagen... eine Andersartigkeit aufgefallen. Ich habe das Gefühl, als wäre das Darunter ihres Darunters nicht... nicht gut .«
»Sie verbirgt ein düsteres Geheimnis«, sagte ich. »Aber nicht sie hat etwas getan, sondern ihr wurde etwas Schlimmes angetan.«
»Hat sie dir alles erzählt?«
»Ja.«
Er nickte nachdenklich und mahlte mit seinem greiferartigen Kiefer. »Gut. Freut mich, das zu hören. Den guten, wertvollen Teil von Rya habe ich immer gespürt, aber da war immer auch dieses andere Gefühl, daß sie etwas verheimlichte, und das machte mich mißtrauisch.«
»Wie gesagt, sie war das Opfer und nicht die Täterin.«
Er klopfte mir auf die Schulter, und wir setzten
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