Zwielicht
mein Lieblingsvetter und mein bester Freund gewesen. Auch Monate nach seinem Tod hatte ich diesen Verlust noch nicht verschmerzt.
Ich öffnete die Augen, starrte zur wasserfleckigen Decke aus Styroporplatten empor und zwang mich, das grausige Bild von Kerrys verstümmelter Leiche zu verdrängen. Es gab bessere Erinnerungen an Oregon...
Im Hof vor unserem Haus wuchs eine große Rottanne mit tief herabhängenden Ästen, die im Sommer im Sonnenlicht funkelten, als wären sie mit Gold und Edelsteinen behängt. Im Winter senkten sich die Äste unter der Schneelast noch mehr; wenn es ein sonniger Tag war, glänzte die Tanne wie ein geschmückter Weihnachtsbaum — doch an grauen Tagen stimmte ihr Anblick schwermütig, erinnerte sie doch an einen leidgebeugten Menschen am offenen Grab.
Diese Trauerkleidung trug die Fichte auch an jenem Tag, als ich meinen Onkel Denton tötete. Ich hatte eine Axt. Er hatte nur seine bloßen Hände. Trotzdem war es nicht leicht, sich seiner zu entledigen.
Schon wieder eine schlimme Erinnerung! Ich drehte mich auf die Seite und schloß die Augen wieder. Wenn ich die Hoffnung auf einige Stunden Schlaf nicht aufgeben wollte, durfte ich nur an die schönen Zeiten denken, an Mutter und Vater, an meine Schwestern.
Ich war in dem weißen Farmhaus hinter der Rottanne zur Welt gekommen, ein Wunschkind, dem es an Liebe wahrlich nicht mangelte, einziger Sohn von Cynthia und Kurt Stanfeuss. Meine beiden Schwestern waren temperamentvoll genug, um gute Spielgefährtinnen abzugeben; doch es fehlte ihnen auch nicht an weiblicher Anmut und Sensibilität, so daß ich von ihnen ein halbwegs kultiviertes Benehmen lernte, was in der rustikalen Welt meiner heimatlichen Gebirgstäler sonst vielleicht nicht möglich gewesen wäre.
Sarah Louise, blond und hellhäutig wie unser Vater, war zwei Jähre älter als ich. Von Kindheit an konnte sie so großartig zeichnen und malen, als wäre sie in einem früheren Leben eine berühmte Künstlerin gewesen, und sie träumte davon, ihren Lebensunterhalt mit Pinsel und Palette zu verdienen. Außerdem hatte sie ein besonderes Geschick im Umgang mit Tieren. Sie kam mühelos mit jedem Pferd zurecht, lockte jede Katze aus ihrem Schmollwinkel hervor, beruhigte eine aufgescheuchte Hühnerschar einfach durch ihre Anwesenheit und verwandelte den bissigsten Hund in ein lammfrommes schwanzwedelndes Geschöpf.
Jennifer Ruth, brünett und mandelhäutig wie unsere Mutter, war drei Jahre älter als ich. Sie verschlang Fantasy- und Abenteuergeschichten und hatte zwar keine nennenswerte künstlerische Begabung, dafür aber einen erstaunlichen Sinn für Zahlen. Über ihre Vorliebe für alle Gebiete der Mathematik wunderte sich die übrige Familie stets aufs neue, denn wenn man einen von uns vor die Wahl gestellt hätte, entweder eine lange Zahlenkolonne zu addieren oder einem Stachelschwein ein Halsband anzulegen, so hätten wir uns jederzeit für das Stachelschwein entschieden. Jenny besaß auch ein fotografisches Gedächtnis. Sie konnte aus Büchern, die sie vor Jahren gelesen hatte, wortwörtlich zitieren, und Sarah und ich beneideten sie um die hervorragenden Noten, die ihr sozusagen in den Schoß fielen.
Die Gene meiner Mutter und meines Vaters müssen eine äußerst günstige Kombination abgegeben haben, denn es grenzt fast an biologische Magie, daß keines ihrer drei Kinder der Bürde eines außergewöhnlichen Talents entging. Ich muß allerdings hinzufügen, daß die beiden Elternteile auf ihre Weise ebenfalls hochbegabt waren.
Mein Vater war ein musikalisches Genie, und ich benutze das Wort Genie in seiner ursprünglichen Bedeutung, die nichts mit dem Intelligenzquotienten zu tun hat, sondern besagt, daß jemand eine seltene natürliche Begabung auf irgendeinem Gebiet besitzt. Im Falle meines Vaters war das die Musik. Es gab kein Instrument, das er nicht schon nach einem Tag spielen konnte, und nach einer Woche beherrschte er die schwierigsten und anspruchsvollsten Stücke, die andere sich in jahrelanger harter Arbeit aneignen mußten. In unserem Wohnzimmer stand ein Klavier, und Vater spielte darauf oft aus dem Gedächtnis irgendwelche Melodien, die er morgens im Radio gehört hatte, während er mit dem Lieferwagen in die Stadt gefahren war.
Nach seiner Ermordung verstummte für Monate jede Musik in unserem Haus, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.
Ich war fünfzehn, als mein Vater starb, und damals glaubte ich wie alle anderen, er sei einem Unfall zum
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