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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Opfer gefallen. Die meisten glauben das bis heute. Ich weiß inzwischen aber, daß Onkel Denton ihn kaltblütig ermordete.
    Aber ich hatte dafür Denton ermordet. Warum konnte ich trotzdem nicht einschlafen? Ich hatte Rache genommen, hatte der Gerechtigkeit Genüge getan. Warum konnte ich nicht wenigstens für ein oder zwei Stunden Ruhe finden? Warum war jede Nacht eine Qual? Ich konnte nur noch im Zustand totaler Erschöpfung einschlafen.
    Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere.
    Ich dachte an meine Mutter, die genauso ungewöhnlich war wie mein Vater. Sie konnte fantastisch mit Pflanzen umgehen, so wie ihre jüngere Tochter mit Tieren und ihre ältere Tochter mit Zahlen. Jede Pflanze gedieh bei ihr prächtig. Ein kurzer Blick oder eine flüchtige Berührung von Blatt oder Stengel, und schon wußte sie genau, welche Nährstoffe oder welche Spezialpflege ihr grüner Freund benötigte. Ihr Gemüsegarten brachte stets die größten und schmackhaftesten Tomaten weit und breit hervor, den süßesten Mais, die besten Zwiebeln. Außerdem war Mutter eine Heilerin. Nein, keine Gesundbeterin, keine Quacksalberin; sie heilte weder durch Handauflegung noch durch übersinnliche Kräfte. Sie war vielmehr das, was im Volksmund als ›Kräuterweiblein‹ bezeichnet wird. Sie stellte Breiumschläge, Salben und sonstige Heilmittel selbst her und konnte köstliche Kräutertees zubereiten. Schwere Erkältungen kamen in der Familie Stanfeuss nicht vor; schlimmstenfalls hatten wir einen Tag lang Schnupfen. Wir bekamen weder Influenza noch Bronchitis, weder ansteckende Augenentzündung noch eine der sonstigen Krankheiten, die Kinder im allgemeinen von der Schule mit nach Hause bringen, wo dann auch die Eltern angesteckt werden. Nachbarn und Verwandte holten sich oft bei meiner Mutter irgendwelche Kräuterheilmittel, und obwohl ihr häufig Geld dafür angeboten wurde, nahm sie niemals auch nur einen Penny an; sie hatte das Gefühl, daß es blasphemisch wäre, für ihre besondere Gabe einen anderen Lohn zu empfangen als die Freude, diese Gabe zum Wohle ihrer Familie und anderer Menschen anwenden zu können.
    Und selbstverständlich verfüge auch ich über besondere Gaben, obwohl sie sich von den viel rationaleren Talenten meiner Eltern und Schwestern beträchtlich unterscheiden und mir selbst oft unheimlich sind.
    Großmutter Stanfeuss zufolge, die wahre Schätze an geheimen Volksweisheiten ihr eigen nannte, habe ich Zwielicht-Augen. Sie haben die Farbe von Zwielicht, eine seltsame Farbe, eher purpurn als blau; sie sind zudem besonders klar und reflektieren das Licht derart, daß sie immer etwas zu leuchten scheinen. Diese eigenartigen Augen sollen ungewöhnlich schön sein. Großmutter behauptete, von einer halben Million Menschen hätte noch nicht einmal einer solche Augen, und ich muß zugeben, daß ich sie bei keinem anderen Menschen je gesehen habe. Als Großmutter mich zum erstenmal zu Gesicht bekam, auf den Armen meiner Mutter, in eine Decke gehüllt, erklärte sie meinen Eltern, daß Zwielicht-Augen bei einem Neugeborenen auf besondere psychische Gaben hindeuteten; falls die Augenfarbe sich bis zum zweiten Geburtstag des Kindes nicht ändere, würden diese übersinnlichen Kräfte — laut den Volkssagen — ungewöhnlich stark sein und auf verschiedene Weise zutage treten.
    Großmutter hatte recht.
    Und als ich an Großmutters runzeliges und freundliches Gesicht dachte und mir ihre warmen meergrünen Augen vorstellte, fand ich zwar keinen Frieden, aber immerhin stellte sich so etwas wie Waffenruhe ein, und in diesem Zustand konnte der Schlaf endlich zu mir kommen — wie eine Krankenschwester, die Betäubungsmittel auf ein Schlachtfeld bringt, während die Waffen vorübergehend schweigen.
    Ich träumte — wie so oft — von Trollen.
    Im letzten Traum schrie mein Onkel Denton, während ich die Axt schwang: Nein! Ich bin kein Troll! Ich bin genauso ein Mensch wie du, Carl. Wovon redest du eigentlich? Bist du verrückt? Es gibt keine Trolle. Nichts Derartiges. Du bist verrückt, Carl. O mein Gott! O mein Gott! Wahnsinnig! Du bist wahnsinnig! Wahnsinnig!
    Im wirklichen Leben hatte er weder geschrien noch geleugnet. Im wirklichen Leben hatten wir nur einen erbitterten Kampf geführt. Aber als ich nach drei Stunden Schlaf aufwachte, dröhnte mir Dentons Stimme aus dem Traum noch in den Ohren — Wahnsinnig! Du bist wahnsinnig, Carl! O mein Gott, du bist wahnsinnig! —, und ich war schweißgebadet, zitterte heftig und wußte im

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