Zwielicht
Leben lang hatte er gewußt, daß das Böse in sehr realen Formen existierte und die Welt verseuchte — und trotzdem war er weder verrückt geworden noch hatte er sich in einen griesgrämigen Einsiedler verwandelt. Ein grausamer Streich der Natur hatte seine geliebte Frau hinweggerafft, und trotzdem war er nicht verbittert. Er hatte in den letzten dreißig Jahren nur mit seinen Hunden gelebt, und trotzdem war er nicht exzentrisch wie die meisten Menschen, die sich ausschließlich mit ihren Haustieren beschäftigen.
Er war ein ermutigendes Beispiel für die Kraft und Beständigkeit der Menschheit. Obwohl wir seit Jahrtausenden unter den Trollen zu leiden hatten, konnte unsere Spezies noch immer bewundernswerte Persönlichkeiten wie Horton Bluett hervorbringen. Leute wie er waren ein gutes Argument für den Wert unserer Rasse.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder uns zu. »Und was wird jetzt euer nächster Schritt sein?«
»Wir wollen morgen am Zaun der Kohlen-Gesellschaft entlanggehen, bis wir eine Stelle finden, von wo aus man den Mineneingang sehen kann.«
»Diese Mühe könnt ihr euch sparen. Einen solchen Aussichtspunkt gibt es nicht«, erklärte Horton, während er die letzten Eireste mit einem Stückchen Toast aufnahm. »Jedenfalls nicht entlang des Zauns. Und das ist meiner Meinung nach kein Zufall. Ich nehme an, sie wollten verhindern, daß ein Außenstehender die Mineneingänge sehen kann.«
»Das hört sich so an, als hätten Sie selbst nachgeschaut«, sagte ich.
»Das habe ich auch.«
»Wann war das?«
»So etwa anderthalb Jahre, nachdem die neuen Eigentümer — die Trolle, wie ihr sie nennt — die Gesellschaft übernommen, den Namen geändert und diesen verrückten Zaun errichtet hatten. Mir war aufgefallen, daß viele gute Leute, die ihr Leben lang dort gearbeitet hatten, allmählich vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurden. Sie bekamen allerdings großzügige Pensionen, damit die Gewerkschaften keinen Ärger machten. Und jeder, der neu eingestellt wurde — bis hin zu den Hilfsarbeitern —, gehörte zu der Kategorie, die stinkt. Das hat mich beunruhigt, denn es deutete ja darauf hin, daß sie einander erkennen konnten, daß sie über ihr Anders-Sein Bescheid wußten und manchmal zusammenkamen, um ihre teuflischen Pläne zu schmieden. Nachdem ich hier lebe, wollte ich verständlicherweise herausbringen, welches Teufelswerk sie im Bergwerk planten. Deshalb habe ich mich dort oben umgesehen. Ich bin den ganzen verdammten Zaun entlanggelaufen, aber es gab nichts zu sehen, und ich wollte nicht riskieren, über den Zaun zu klettern und auf der anderen Seite herumzuschnüffeln. Wie gesagt, ich wollte nie etwas mit ihnen zu tun haben. Ich wollte immer möglichst großen Abstand zu ihnen halten, und deshalb wäre es alles andere als klug gewesen, unbefugt ihr Grundstück zu betreten.«
Rya legte verwirrt ihre Gabel auf den Teller. »Und was haben Sie dann gemacht? Ihre Neugier einfach unterdrückt?«
»Genau. Es ist mir nicht leichtgefallen, aber wir wissen ja, warum die Katze ums Leben gekommen ist, nicht wahr?«
»Ein solches Geheimnis einfach auf sich beruhen zu lassen — das muß enorme Willenskraft erfordert haben«, meinte ich.
»Nichts dergleichen«, widersprach er. »Es war Angst, weiter nichts. Ich hatte Schiß, um es ganz deutlich zu sagen.«
»Sie sind aber kein Mann, der es leicht oder oft mit der Angst zu tun bekommt.«
»Idealisiere mich nur nicht, junger Mann. Ich bin kein Held. Ich sage euch ganz ehrlich — ich habe mich mein Leben lang vor ihnen gefürchtet. Deshalb habe ich mich stets bemüht, sie in keiner Weise auf mich aufmerksam zu machen. Man könnte sagen, ich habe mich lebenslang getarnt, habe mich unsichtbar zu machen versucht. Ich bin vorsichtig, und nur deshalb habe ich so lange gelebt, daß ich jetzt ein verdrießlicher alter Sonderling bin, der seinen Verstand noch besitzt.«
Growler hatte sich nach dem Essen gemütlich in die Ecke gelegt, offenbar mit der Absicht, ein Nickerchen zu machen. Plötzlich erhob er sich aber und trottete zu einem Fenster. Er stellte seine Vorderpfoten auf den Sims, preßte seine schwarze Nase ans kalte Glas und schaute hinaus. Vielleicht überlegte er nur, welche Vor- und Nachteile es hätte, in die Kälte und Dunkelheit hinauszugehen und die Blase zu entleeren. Vielleicht hatte aber auch etwas seine Aufmerksamkeit erregt.
Obwohl ich keine Vorahnungen drohender Gefahr hatte, beschloß ich, vorsichtshalber auf ungewöhnliche
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