Zwielicht
Morde handelte, hätten Sie sich verpflichtet gefühlt, etwas zu unternehmen. Wahrscheinlich haben Sie die Wahrheit geahnt, aber nur tief im Unterbewußtsein. In Ihr Bewußtsein ließen Sie diesen Gedanken gar nicht erst eindringen, denn dann hätten Sie handeln müssen, und das hätte die Toten auch nicht wieder lebendig gemacht. Es hätte nur bewirkt, daß auch Sie ermordet worden wären.«
»Vielleicht haben Sie aber auch deshalb keinen Verdacht geschöpft«, entwickelte ich eine weitere Theorie, »weil Sie die Bösartigkeit dieser Kreaturen nicht sehen können. Sie spüren ihre Fremdartigkeit, aber Sie sind nicht ständig augenfällig damit konfrontiert wie wir. Sie konnten nicht wissen, wie hervorragend die Trolle organisiert sind, wie gezielt und erbarmungslos sie vorgehen.«
»Trotzdem hätte ich Verdacht schöpfen müssen«, murmelte er. »Es macht mich verdammt nervös, daß ich so naiv war.«
Ich holte weiteres Bier aus dem Kühlschrank, öffnete die Flaschen und stellte sie auf den Tisch. Obwohl es draußen nach wie vor schneite und der Wind ein unheimliches Potpourri sang, waren wir alle dankbar für das kalte Bier.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
Jeder von uns hing seinen Gedanken nach.
Growler nieste, schüttelte sich und legte sich wieder hin.
Obwohl er ruhig dalag, war er noch immer sehr wachsam.
Nach einer ganzen Weile fragte Horton Bluett: »Ihr seid fest entschlossen, das Bergwerk unter die Lupe zu nehmen?«
»Ja«, sagten ich und Rya.
»Ich kann es euch nicht ausreden?«
»Nein«, sagten Rya und ich.
»Es ist wohl vergeblich, junge Leute wie euch zur Vorsicht bekehren zu wollen.«
Wir stimmten ihm zu, daß wir törichte junge Leute seien.
»Nun, wenn dem so ist, kann ich euch ein bißchen helfen. Ich glaube sogar, ich muß euch helfen, denn andernfalls schnappen sie euch auf ihrem Gelände, und dann habt ihr bestimmt nichts zu lachen.«
»Helfen?« fragte ich erstaunt. »Wie denn?«
Er holte tief Luft, und seine klaren dunklen Augen schienen noch klarer zu werden, nachdem er seinen Entschluß gefaßt hatte. »Ihr braucht gar nicht erst zu versuchen, einen Blick auf den Mineneingang oder auf die Anlage zu werfen. Das könnt ihr vergessen. Höchstwahrscheinlich würdet ihr sowieso nichts Interessantes sehen. Ich nehme an, daß die wichtigen Dinge tief unter der Erde versteckt sind.«
»Das glaube ich auch«, sagte ich, »aber...«
Er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen — »Ich kann euch zeigen, wie ihr alle Sicherheitsvorkehrungen umgeht und bis ins Herz der Anlage vordringt. Dann könnt ihr euch aus nächster Nähe anschauen, was dort vorgeht. Ich rate es euch allerdings nicht — schließlich würde ich euch auch nicht raten, eure Hände auf eine Kreissäge zu legen. Ich glaube, ihr seid beide wagemutiger, als es gut für euch ist. Ihr seid romantisch und wollt euch unbedingt für eine gute Sache einsetzen. Ihr habt viel zu voreilig entschieden, daß ihr nicht glücklich zusammen leben könntet, wenn ihr den Kopf in den Sand steckt. Ihr seid so töricht, nicht auf euren Selbsterhaltungstrieb hören zu wollen, der euch dringend eingibt, die Finger von dieser Sache zu lassen.«
Rya und ich setzten gleichzeitig zum Sprechen an.
Wieder gebot er uns mit seiner großen Hand Schweigen. »Versteht mich nicht falsch. Ich bewundere euch — etwa so, wie man einen verdammten Narren bewundert, der in einem Faß die Niagarafälle hinabtreiben will. Man weiß genau, daß die Wirkung auf die Niagarafälle gleich Null sein wird, während die Folgen für ihn wahrscheinlich katastrophal sein werden, aber er kann der Herausforderung einfach nicht widerstehen. Und das gehört zu den Dingen, die uns von den Tieren unterscheiden: Wir lieben Herausforderungen, wir wollen nichts unversucht lassen, auch wenn unsere Erfolgschancen verschwindend gering sind, auch wenn unser Einsatz überhaupt nichts bewirkt. Es ist so ähnlich, wie wenn man die Fäuste gen Himmel erhebt und Drohungen gegen Gott ausstößt, für den Fall, daß Er nicht bald einige Änderungen an der Schöpfung vornimmt und uns eine bessere Chance gibt. Das mag dumm und sinnlos sein — aber es ist mutig und irgendwie befriedigend.«
Horton wollte uns nicht verraten, wie er uns ins Bergwerk bringen würde. Er sagte, es wäre Zeitverschwendung, uns jetzt alles lang und breit zu erklären, denn er würde es uns morgen sowieso zeigen müssen. Er sagte nur, wir sollten im Morgengrauen aufbruchbereit sein, weil er uns um
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