Zwielicht
auch wenn der Suchtrupp nicht zurückkam, würde uns früher oder später einer der Arbeiter des Kraftwerks erspähen, so sehr wir uns auch vorsehen mochten.
Wir hoben zu zweit das Stahlgitter hoch und legten es leise wieder ab, so daß es noch zu einem Drittel die Öffnung bedeckte, damit ich es später von unten packen und wieder an Ort und Stelle hieven konnte.
Wir beförderten unser Gepäck hinunter. Rya folgte und schob einen Rucksack und die Schrotflinte in eines der horizontalen Rohre, den zweiten Rucksack und die Maschinenpistole in das gegenüberliegende Rohr. Dann glitt sie rückwärts in das rechte Rohr und zog den Stoffsack hinein.
Ich sprang hinunter und versuchte sodann, das Gitter anzuheben und lautlos über die Öffnung zu legen. Das mißlang mir jedoch. Es entglitt im letzten Moment meinen Händen und landete geräuschvoll an der richtigen Stelle. Nun konnte ich nur noch hoffen, daß jeder der Trolle, die hier arbeiteten, annehmen würde, daß einer der anderen das Geräusch verursacht hatte.
Ich kroch rückwärts in das linke Rohr und stellte fest, daß es nicht ganz horizontal war, sondern sich leicht nach unten neigte, damit das Wasser besser abfließen konnte. Es war trocken. Der Boden war in letzter Zeit nicht gesäubert worden.
Rya war nur einen Meter von mir entfernt, aber hier unten war es so dunkel, daß ich sie nicht sehen konnte. Mir genügte es jedoch zu wissen, daß sie in meiner Nähe war.
Offenbar hatte niemand dem Geräusch beim Einrasten des Gitters Beachtung geschenkt.
Der Lärm der Generatoren und das unablässige Dröhnen des unterirdischen Flusses machten jede Unterhaltung unmöglich. Wir hätten laut brüllen müssen, und das konnten wir natürlich nicht riskieren.
Ich verspürte plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, Rya zu berühren. Als ich meine Hand ausstreckte, stellte ich fest, daß sie mir ein in Butterbrotpapier eingewickeltes Sandwich und eine Thermosflasche entgegenstreckte. Sie schien nicht überrascht zu sein, als unsere Hände sich berührten. Obwohl wir gleichsam blind, taub und stumm waren, stellte die Liebe, die wir füreinander empfanden, eine fast hellseherische Verbindung zwischen uns her, und das Bewußtsein dieser psychischen und emotionalen Nähe tröstete und beruhigte uns beide.
Das Leuchtzifferblatt meiner Armbanduhr verriet mir, daß es einige Minuten nach fünf war. Sonntagnachmittag.
Warten in der Dunkelheit.
Ich ließ meine Gedanken nach Oregon wandern. Aber der Verlust meiner Familie war viel zu deprimierend.
Deshalb dachte ich an Rya, stellte mir vor, wie wir in besseren Zeiten zusammen gelacht hatten, rief mit in Erinnerung, wie sehr ich sie liebte, brauchte, begehrte. Doch diese Gedanken erregten mich, was in meiner derzeitigen unbequemen Position sehr unangenehm war.
Deshalb konzentrierte ich mich schließlich auf Erinnerungen an den Rummelplatz und meine dortigen Freunde. Der Sombra Brothers Carnival war mein Zufluchtsort, meine Familie, mein Zuhause. Aber, verdammt, wir waren von Gibtown weit entfernt, und es bestand wenig Hoffnung, daß wir unsere Freunde jemals wiedersehen würden. Dieser Gedanke war noch deprimierender als die Erinnerungen an Oregon.
Ich schlief ein.
In den letzten Nächten hatte ich wenig Schlaf gefunden, und außerdem war ich müde von diesem anstrengenden und ereignisreichen Tag. Ich schlief neun Stunden durch. Um zwei Uhr morgens schreckte ich aus einem Traum auf und war sofort hellwach.
Im ersten Moment dachte ich, daß ein Alptraum mich geweckt hätte. Doch dann hörte ich Stimmen: Über mir unterhielten sich Trolle in ihrer alten Sprache.
Ich streckte im Dunkeln den Arm aus und fand Ryas ausgestreckten Arm. Wir faßten uns bei den Händen und lauschten angespannt.
Die Stimmen entfernten sich.
Oben im Kraftwerk waren Geräusche zu hören, die gewiß nichts mit der üblichen Arbeit zu tun hatten: Klirren von Metall, lautes Poltern.
Offenbar war eine zweite Durchsuchung im Gange. In den vergangenen neun Stunden hatten sie vermutlich die ganze Anlage auf den Kopf gestellt und dabei die Leiche des Trolls, den wir verhört hatten, und neben ihm die leeren Ampullen und die Injektionsnadeln gefunden. Vielleicht hatten sie sogar irgendwelche Spuren im Belüftungsschacht entdeckt und wußten, daß wir diese Kanäle im Kraftwerk verlassen hatten. Nun wollten sie es noch einmal gründlich unter die Lupe nehmen.
Vierzig Minuten vergingen. Die Geräusche über uns ließen nicht nach.
Rya und ich
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