Zwielicht
jeden x-beliebigen Gast zurückgehalten. Gleichzeitig spürte ich jedoch, daß sie sich nicht bewußt war, wie einsam und verloren sie wirkte, und daß mir dadurch die Hände gebunden waren. Wenn sie nämlich merkte, daß ihre Maske einer kaltschnäuzigen Emanze zeitweilig transparent war, würde sie verlegen werden. Und wütend. Und selbstverständlich würde sie ihren Zorn an mir abreagieren.
Deshalb sagte ich nur: »Nun, ich hoffe, daß ich dich nie enttäusche.« Ich lächelte ihr zu. »Dann also bis morgen.« Und ich ging.
Sie rief mich nicht zurück. Im tiefsten Innern meines jugendlich unreifen, hoffnungslos romantischen Herzens hatte ich das gehofft, hatte mir ausgemalt, daß ich mich dann umdrehen und sie auf der Schwelle stehen sehen würde, atemberaubend schön im Gegenlicht, daß sie — ganz leise — etwas unvorstellbar Verführerisches sagen würde, und daß wir daraufhin eine Nacht ungezügelter Leidenschaft erleben würden. Aber im wirklichen Leben passiert so etwas nie.
Ich drehte mich trotzdem noch einmal um und schaute zurück, und sie blickte mir tatsächlich nach, allerdings von ihrem Lehnstuhl aus. Sie bot einen derart erotischen Anblick, daß ich mich einen Augenblick lang nicht von der Stelle rühren konnte. Selbst wenn ein Troll mit mordlustig funkelnden Augen in diesem Moment auf mich zugestürzt wäre, hätte ich mich nicht von der Stelle bewegen können. Sie hatte ihre nackten Beine nach vorne ausgestreckt und ein wenig gespreizt, und das Licht der Leselampe verlieh ihrer zarten Haut einen weichen Schimmer. Dieses Licht zauberte auch Schatten unter ihre Brüste, wodurch deren herrliche Form noch unterstrichen wurde. Ihre schlanken Arme, der zarte Hals, das makellose Gesicht, die kastanienbraun-blonden Haare — alles leuchtete goldfarben. Sie wurde vom Licht nicht einfach bestrahlt und liebkost, nein, sie selbst schien die Lichtquelle zu sein, sie selbst schien zu strahlen. Es war zwar Nacht, aber die Sonne hatte sie nicht verlassen.
Ich wandte mich ab und lief mit rasendem Herzklopfen in die Dunkelheit hinein, blieb aber schon nach wenigen Schritten entsetzt stehen, als Rya Raines plötzlich vor mir auftauchte. Diese Rya trug Jeans und eine schmutzige Bluse. Zuerst war sie nur ein verschwommenes, wäßriges, farbloses Bild, wie wenn ein Film auf eine wellige schwarze Leinwand projiziert wird. Doch innerhalb von Sekunden gewann sie feste Konturen und wirkte völlig real, obwohl sie natürlich nicht real war. Diese Rya war auch nicht erotisch; ihr Gesicht war gespenstisch bleich, und aus einem Winkel ihres sinnlichen Mundes sickerte Blut. Ich konnte nun auch erkennen, daß ihre Bluse nicht schmutzig, sondern blutdurchtränkt war. Ihr Hals, ihre Schultern, ihre Brust und ihr Bauch — überall Blut. Und mit blutfeuchten Lippen flüsterte sie kaum vernehmbar: Sterben, sterben... laß mich nicht sterben...
»Nein«, flüsterte ich noch leiser als die Erscheinung und lief zu ihr hin, um sie mit einer Selbstverständlichkeit zu umarmen und zu trösten, die ich bei der realen Rya nie aufgebracht hätte. »Nein, ich lasse dich nicht sterben...«
Sie löste sich urplötzlich auf. Die Nacht war wieder leer.
Ich stolperte durch feuchte Luft an jener Stelle, wo sie soeben noch gestanden hatte.
Ich fiel auf die Knie und ließ den Kopf hängen.
Ich blieb ein Weilchen in dieser Position.
Ich wollte die Botschaft dieser Vision nicht akzeptieren. Aber ich mußte mich ihr stellen.
Hatte ich fünftausend Kilometer zurückgelegt, hatte ich dem Schicksal entgegenkommenderweise erlaubt, ein neues Zuhause für mich auszuwählen, hatte ich begonnen, neue Freundschaften zu schließen, nur um mit ansehen zu müssen, daß all diese Menschen irgendeiner Katastrophe zum Opfer fielen?
Wenn ich wenigstens wüßte, welche Gefahr ihnen drohte, dann könnte ich Rya und Jelly und eventuelle weitere Opfer warnen; und wenn es mir gelänge, sie von meinen hellseherischen Fähigkeiten zu überzeugen, dann könnten sie irgendwelche Maßnahmen ergreifen, um dem Tod zu entgehen. Aber ich vermochte nicht zu erkennen, welcher Art das Unheil sein würde.
Ich wußte nur, daß die Trolle darin verwickelt waren.
Beim Gedanken an die mir bevorstehenden Verluste mußte ich gegen heftige Übelkeit ankämpfen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so im Staub und trockenen Gras kniete, bevor ich mich mühsam hochrappelte. Niemand hatte mich gesehen oder gehört. Rya war nicht auf die Schwelle ihres Wohnwagens getreten, hatte nicht
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