Zwielicht
würden wir nicht ein Gebäude betreten, sondern leichtsinnig in das weit aufgerissene Maul eines Drachens hineinspazieren.
Ich wußte nicht, ob dieser düstere Eindruck durch meine übersinnlichen Kräfte entstand, oder ob einfach meine Fantasie mit mir durchging; manchmal ist das nur schwer auseinanderzuhalten. Vielleicht wurde ich nur von Wahnvorstellungen heimgesucht. Vielleicht sah ich Gefahr, Schmerz und Tod, wo sie gar nicht existierten. Ich leide manchmal unter Wahnvorstellungen, das gebe ich zu. Ihnen würde es genauso ergehen, wenn Sie sehen könnten, was ich sehe — jene dämonischen Kreaturen, die verkleidet unter uns wandeln...
»Slim?« hörte ich Jellys Stimme. »Was ist los?«
»Äh... nichts.«
»Du siehst ziemlich käsig aus.«
»Mir fehlt nichts.«
»Hier wird uns nichts passieren«, beruhigte er mich.
»Darüber habe ich mir keine Sorgen gemacht.«
»Wie gesagt — in der Stadt gibt es nie Ärger.«
»Ich weiß. Ich habe keine Angst vor dem Kampf. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich habe noch nie im Leben vor einem Kampf Reißaus genommen und werde es auch diesmal bestimmt nicht tun.«
Jelly runzelte die Stirn. »Das habe ich auch keine Sekunde befürchtet.«
»Gehen wir zu Kelsko«, sagte ich.
Wir betraten das Gebäude durch den Hintereingang, denn wenn es um Bestechung geht, spaziert man nicht durch den Haupteingang, um sich am Empfang anzumelden und sein Begehr vorzutragen. Jelly ging voraus, Luke war direkt hinter ihm, ich bildete die Nachhut und warf von der Türschwelle aus noch einen Blick zurück auf den gelben Cadillac, der in dieser tristen Stadt der leuchtendste Gegenstand weit und breit war. Für meine Begriffe stach er hier sogar zu sehr ins Auge. Ich mußte an farbenprächtige Schmetterlinge denken, die ein Blickfang für Vögel sind und deshalb nach einem letzten verzweifelten Flattern ihrer bunten Flügel verschlungen werden. Der Cadillac kam mir plötzlich wie ein Symbol unserer Naivität, Hilflosigkeit und Verwundbarkeit vor.
Es war zwei Minuten nach zwölf, und wir waren um die Mittagszeit mit Kelsko verabredet, allerdings nicht zum Mittagessen, denn wir waren ja schließlich Schausteller, und die meisten Normalbürger wollten sich mit uns nicht an einen Tisch setzen. Am allerwenigsten jene, deren Taschen wir heimlich füllten.
Das Gefängnis und das Polizeirevier befanden sich im Erdgeschoß, aber Kelskos Büro war separat untergebracht. Wir folgten Jelly mehrere Betontreppen hinauf und gelangten durch eine Feuertür in den Korridor des dritten Stockwerks, ohne jemandem zu begegnen. Der Boden war mit dunkelgrünen Vinylfliesen ausgelegt, die auf Hochglanz poliert waren. Es roch ein klein wenig nach einem scharfen Desinfektionsmittel. Die dritte Tür führte ins Privatbüro des Polizeichefs. Sie war geöffnet, und wir traten ein.
Ich hatte feuchte Hände.
Mein Herz raste.
Ich wußte nicht, warum.
Trotz Jellys beruhigender Worte schloß ich einen Hinterhalt nicht aus, aber das war es nicht, was mir jetzt angst machte.
Etwas anderes. Etwas... schwer zu Fassendes.
Im Vorzimmer brannte kein Licht, und es gab nur ein vergittertes Fenster neben einem Wasserbehälter. Da der blaue Sommerhimmel inzwischen vor der Armada dunkler Wolken fast kapituliert hatte und zudem die Jalousielamellen schräg gestellt waren, konnte man die Einrichtung nur undeutlich erkennen: metallene Aktenschränke, ein Tischchen mit Heizplatte und Kaffeekanne, leere Garderobenhaken, eine riesige Wandkarte des Kreises und drei Holzstühle entlang der Wand. Der Schreibtisch der Sekretärin war ordentlich aufgeräumt und nicht besetzt.
Lisle Kelsko hatte sie wahrscheinlich zum Essen geschickt, damit sie nichts Verfängliches aufschnappen konnte.
Die Tür zum Büro selbst war nur angelehnt. Durch den Spalt schimmerte Licht. Jelly ging darauf zu, Luke und ich folgten ihm.
Mir schnürte sich das Herz zusammen.
Mein Mund war so trocken, als hätte ich Staub geschluckt.
Jelly klopfte leise an die Tür.
Von innen rief eine Stimme: »Herein, nur herein.« Es war ein kräftiger Bariton, und der Tonfall verriet gelassene Autorität und blasierte Herablassung.
Jelly trat ein, und ich hörte ihn sagen: »Hallo, Herr Polizeichef Kelsko, welche Freude, Sie wiederzusehen.« Als ich als letzter eintrat, sah ich einen überraschend schlichten Raum — graue Wände ohne Fotos oder Gemälde, weiße Jalousien, rein funktionale Möbel —, und dann sah ich Kelsko hinter einem großen Metallschreibtisch.
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