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Zwielicht über Westerland

Zwielicht über Westerland

Titel: Zwielicht über Westerland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lindwegen
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für die Dinge, die die Patienten auf ihren Zimmern zurück ließen. In dem Karton befanden sich ein einzelner Pantoffel, ein rosafarbener Frotteebademantel, diverse Armbanduhren, eine Kulturtasche, unzählige Duschgele und ein Notizbuch.
    Nachdem sie alle Eintragungen wie „Olli Geburtstag“ oder „Treffen mit M.“ gelesen hatte, schlug sie das Heftchen bei „Brot holen“ zu. Was schrieben die Leute für einen Quark in ihre Kladden?
    Das Geräusch einer schweren Atmung ließ sie hochschrecken. Es war verrückt: Nachtschwestern sollten warten, bis jemand etwas von ihnen wollte, und kam dann jemand, erschraken sie sich. Sie hatte es tausendfach erlebt.
    Vor ihr stand eine Sechzehnjährige mit langen, dunklen Haaren und dunklen Augen. Es war Inga aus der 234. Sophie brauchte nicht erst im Plan nachsehen, sie war eine von den Patienten, die Mukoviszidose hatten. Ihre Lippen waren spröde und rissig, ihr Haut weißer als die eines Vampirs und ihr Atem war laut und schwer.
    „Ich kann nicht schlafen“, sagte sie entschuldigend.
    „Dann solltest du vielleicht Nachtschwester werden“, seufzte Sophie, erhob sich von ihrem Platz hinter dem Tresen und ging durch das Rezeptionszimmer auf den Flur hinaus. Eine der Sitzgruppen war alsLeseecke hinter Glas gesetzt worden. Dort war es wärmer als im Rest der großen Halle. Sie setzten sich auf das bequeme Ecksofa.
    „Wir haben eine halbe Stunde. Du gibst“, lächelte Sophie Inga an und legte ein Kartenspiel auf den Tisch.
    In diesem Moment war sie unendlich froh, Schwester zu sein. Manchmal tat man das, was man für andere tat, auch für sich selber. Es waren eher die Gesten, die kleinen Dankbarkeiten. Sie wusste genau, warum Inga nicht schlafen konnte, Schlafen war so unnütz, wenn man begrenzte Zeit hatte. Nach einer halben Stunde hatte sie sie davon überzeugt, dass Schlafen die Kraft brachte, die sie dringend brauchte. Inga verzog sich so leise, wie sie gekommen war.
    Zurück hinter der Rezeption fiel Sophies Blick auf die Hinterbliebenenkiste, die sie noch wegräumen musste.
    Sie wusste von Martha, dass es sich um einen weiblichen Vampir gehandelt hatte. Wenn sie jetzt die Karteikästen… - herrje, gab es überhaupt noch Karteikästen? An die Daten in den Computern würde sie ohne Passwort nicht heran kommen. Verflixte Technik, nicht einmal spionieren konnte man ohne sie. Es musste noch einen Weg geben.
    Die An- und Abreiselisten, schoss es ihr durch den Kopf. Die Listen wurden für die Rezeption ausgedruckt, zum Abhaken bei Kurantritt und Abreise.
    Eilig holte sie die Ordner aus dem Rezeptionszimmer. Martha hatte sich Ende Juni das Leben genommen. Sie war im Mai zur Kur auf Sylt gewesen. Zum Glück war der Name Martha nicht mehr sehr verbreitet, denn Sophie kannte keinen Nachnamen.
    Nach wenigen Minuten hatte sie sie gefunden:
    Martha Zimmermann, geb. 19.10.37, Station 4, Zimmer 211.
    Ein verschlüsselter Code am Ende der Zeile wies darauf hin, dass es sich um eine einfache Erholungskur wegen Erschöpfung handelte. Kein P am Ende, welches darauf hinwies, dass die Patientin ein psychisches Problem hatte und damit besonderer Aufmerksamkeit bedurfte. Leider hatten sie es bei Martha nicht erkannt. EinenVorwurf konnte Sophie ihnen aber nicht machen. Blutsüchtige waren Meister im Täuschen und Verschweigen. Sie mussten so sein. Martha war erst verzweifelt und dann teilnahmslos geworden. Viele Menschen waren eines natürlichen Todes gestorben in den unzähligen Nachtwachen, doch nie hatte Sophie ihre erste Sterbende vergessen. Eine sehr alte Dame, die nur einen Satz zu ihr gesagt hatte: „Nun ist auch gut.“
    Vielleicht war es bei Martha von der Einstellung her ähnlich gewesen.
    In Gedanken ging sie alle Gespräche mit ihr noch einmal durch. Sie hatte Martha durch Zufall auf einer Lesung in der einzigen Buchhandlung ihrer Kleinstadt kennen gelernt. Danach hatten sie sich noch einige Male in dem kleinen Stadtcafé getroffen. Vielleicht war es kein Zufall. Sophie hatte bereits vor Wochen ihren Job und die Wohnung kündigen müssen. Jeder wusste, dass sie nach Sylt ziehen würde. Hatte Martha ihr Ableben geplant und die Aufgaben, für die sie nicht mehr die Kraft hatte, an die junge wissbegierige Schwester übertragen? In Sophies Hirn ratterte es. Oder wusste Martha mehr, als sie zugegeben hatte und war vielleicht nicht von alleine aus dem Leben geschieden. Das würde heißen, dass Sophie sich in der gleichen Gefahr befand. Eine Gänsehaut machte sich auf ihren Armen

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