Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
Sie sind gerade Zeuge einer alten, aber grundsätzlichen Diskussion in Segue geworden. Es läuft alles auf die simple, aber erstaunlich schwierige Frage hinaus: Wie definiert man Tod?«
»Dr. Remy behauptet, dass irgendetwas Jacobs Seele geraubt hat, während sein Körper weiterlebt. Auf der anderen Seite gibt es Lady Amunsdale, das offiziell anerkannte Gespenst von Segue. Sie verfügt über keinen Körper und ist physisch kaum wahrnehmbar, besitzt aber eindeutig ein Ich. Wer von beiden ist lebendig? Wer tot?«
Der Raum versank in Schweigen. Alle Blicke waren erwartungsvoll auf sie gerichtet.
Talia befeuchtete ihre Lippen. Ihr Blick schweifte über den Tisch, aber sie wandte sich an Armand. »Äh. Nun jede Person besitzt ein Leben … und einen Tod. Wenn man sich auf das Körperliche beschränkt … «
Ungeduldig legte Armand den Kopf zur Seite.
Talia räusperte sich und positionierte ihren Stift in einem perfekten rechten Winkel neben ihrem Notizbuch. »… sind Geister lebendig und Gespenster tot. Wohingegen in metaphysischer Hinsicht das Gegenteil der Fall ist.«
»Haben wir das nicht gerade schon gesagt?«, unterbrach Armand.
»Nun, ja, aber … «, stammelte sie.
Adam rückte in seinem Stuhl nach vorn. Er wusste um ihren klaren Verstand und mochte die Art, in der sie Probleme wie ein Gedankenpuzzle hin- und herbewegte, um dann eine offensichtliche Lösung zu nehmen und sie auf den Kopf zu stellen. Das war genau der Grund, wieso er sie im Team haben wollte. Wenn Armand einen Augenblick still wäre, käme sie zu einer neuen Lösung, da war er sicher.
»Dann fahren Sie fort«, sagte Armand übertrieben ungeduldig.
Talia zog die Augen zusammen. »Gern. Wenn Sie aufhören, mir ins Wort zu fallen.«
Adam unterdrückte ein Lächeln. Das fing gut an.
Sie holte tief Luft. »Wenn eine Person ihr Leben verlieren kann, kann sie vielleicht genauso ihren Tod verlieren.«
Armand verdrehte die Augen. »Sie sind genauso schlimm wie Jim Remy. Das ist doch bloß eine verdrehte romantische Metapher.«
»Ist eine Metapher nicht lediglich ein Weg, etwas auf neue Art zu betrachten?«, erwiderte sie. »Geht es hier nicht darum, die Dinge aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen?«
»Na gut. Wieso sollte eine Person ihren Tod verlieren?«
»Die Menschen haben schon immer versucht, sich vom Tod zu befreien«, argumentierte sie. »Ganze Industrien leben von dem Wunsch, jung und gesund zu bleiben. Vor die Wahl gestellt, würden die meisten Leute ihren Tod abgeben und nicht mehr an ihn denken.«
Talias Aussagen waren sehr simpel, aber sie trieben Adam einen kalten Schauer über den Rücken. War die Antwort so einfach?
Adam blickte sich im Raum um und las in den Gesichtern seiner Mitarbeiter, dass sie verstanden. Talia blickte ihn an und schluckte ihren Ärger hinunter, an seine Stelle trat Mitleid.
Unsterblich. Für immer jung. Für immer stark. Für immer schön.
Rastalockes gruseliger Liedtext fiel ihm wieder ein. Zuerst muss die menschliche Rasse zerschmettern den Tod.
Adam lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Menschen, die ihr Leben opferten, waren Helden oder Märtyrer. Was, wenn Menschen ihren Tod opfern konnten? War so etwas möglich? Und zu was wurden sie dadurch?
Adam wusste, dass sich die Antwort in einer Zelle im Keller von Segue befand.
Jacob litt unter keiner Krankheit, er war von keinem Dämon besessen. Es war viel schlimmer, so schlimm, dass Adam den Gedanken bislang noch nicht einmal zugelassen hatte. Jacob war aus freien Stücken zum Monster geworden.
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Talia beobachtete, wie sich Adams Haltung veränderte. Sein Blick wurde schärfer, und er errötete. Die Linie seines Kiefers trat deutlicher hervor. Er umklammerte die Tischkante derart fest mit den Händen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Wenn sie ihn jetzt berührte, würde sie wieder überall in ihm diese dunkle Leidenschaft spüren. Er kannte nur ein Ziel. Zu töten.
»Spielt es tatsächlich eine Rolle, ob es Jacobs Entscheidung war oder nicht?«, nörgelte Armand.
Adam schlug einmal heftig mit der Faust auf den Tisch und schritt aus dem Raum. Talia wusste genau, wohin er ging. Auch sie hatte ihre Familie verloren, und wenn sie Antworten finden oder einen Verrat aufdecken könnte, wäre sie nicht aufzuhalten. Adam wollte Antworten finden; er war auf dem Weg zu Jacobs Zelle. Sie war froh, dass sie bei dem bevorstehenden Gespräch nicht dabei sein musste.
Custo erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, für heute sind wir fertig. Ich danke
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