Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Topfschnitt, die Arme fest um sich selbst geschlungen. Das Kind litt, das sah man deutlich. Die heitere Frau mit den rotblonden Haaren, die über ihre Schultern fielen, musste Kathleen sein. Auf der anderen Seite des Kreises stand die Layla von heute. Sie fror, und auf den schmutzigen Wangen waren Spuren von Tränen zu erkennen. Dazu passend hatte sie eine rote Nase und noch immer keinen Namen.
Aber zumindest gab es jetzt eine Aufgabe. Ein Puzzle. Sie konnte einen Trick zu ihrem Vorteil wenden.
»Wähle eine aus.« Moira fuchtelte mit den Armen und deutete auf alle gleichzeitig.
Ja, aber welche? Layla musterte ein Gesicht nach dem anderen. War sie Kathleen, diejenige, mit der alles begonnen hatte? Layla trat einen Schritt auf sie zu, dann zögerte sie. Es gab kein Zurück. Kathleen war tot. Nun, wie wäre es dann mit der erwachsenen Ausgabe ihrer selbst? Das schien eine naheliegende Lösung. Doch hatte sie nicht gerade gesagt, dass sie ein neues Leben wollte? Sollte sie dann nicht eine Fremde wählen?
Sie war alle und keine von ihnen. Wer war sie? Sie wusste es nicht. Wieder einmal.
Temet Nosce. Das ergab keinen Sinn für sie. Zu schade, dass sie es nicht herausgefunden hatte.
Jedes Mal, wenn sie kalte Luft einatmete, verblassten die Menschen in den Spiegeln ein bisschen stärker, der Wahnsinn der Zwielichtlande verspottete Laylas Verstand. Sie fühlte sich träge, als würde sie gleich einschlafen. Um sich wachzuhalten, biss sie sich auf die Zunge.
Das Problem war, dass das Schicksal ihr die Frage gestellt hatte und Moira die Antwort überprüfte. Ihr blieben wenig Chancen.
Die Gesichter verschwammen. Layla verlor allmählich den Verstand. Oder vielleicht verschwammen die Gesichter, weil sie nicht wichtig waren.
»Hier unter meinem Rock ist es warm und sicher«, lockte Moira.
Apropos Wahnsinn. Layla lehnte dankend ab. Vielleicht lautete die Frage nicht so sehr wer sie war, sondern vielmehr wer sie sein wollte .
Laylas Blick wanderte von einer zur anderen. Das einsame Kind, die Hausfrau, die wunderschöne Kathleen, die alte Dame, die junge Frau, die Layla von heute. Und davor liefen die drei Schicksale im Kreis herum. Mädchen, Mutter und … Greisin.
Sie stoppte, betrachtete sich im Spiegel – Ja, die – und genoss es, sich so sicher zu sein.
Eigentlich war es ganz leicht. So leicht, dass sie lachen musste. Ja, ein bisschen verrückt.
Schattenmann, Liebster, ich komme.
Moira wedelte mit ihrem Rock wie eine Cancantänzerin. »Ich dachte, du bleibst ein bisschen länger. Wirklich. Nachdem du auf den geschätzten Schattenmann gesetzt hast, dachte ich, wir könnten eine Weile spielen.«
Layla brauchte etwas, womit sie den Spiegel einschlagen konnte. Einschlagen und nach Hause gehen.
Ihre Fäuste mussten genügen. Sie ballte sie und bezog Kraft aus ihren Gefühlen: der Erfüllung bei ihrer ersten Begegnung mit Talia. Der intensiven Verbindung zum Schattenmann. Dem seltsamen Gefühl, in dem Tollhaus Segue zu Hause zu sein. Sie hatte einen Ort, eine Familie, die sie ihr eigen nennen konnte und, verdammt, sie würde um jeden Preis mit ihnen leben.
Moira schüttelte den Kopf. »Du kannst mir nichts antun.«
Sie hoffte, dass ein Riss in dem Spiegel diesem Ort zu etwas Farbe verhalf. »Ich habe mich entschieden.«
»Oh … ?« Doch Moiras Aufmerksamkeit zuckte zu dem Kreis. Die vollbusige Schwester mit der Spindel streckte die Hand aus. Ihr Blick wirkte abwesend, während die Spindel sich von allein auf ihrer Handfläche drehte und den goldenen Faden spann. Reichlich Faden für ein langes Leben.
»Wie?«, fragte Moira und wandte Layla erneut ihren Blick zu. Ihre Augen hatten sich unheilvoll schwarz gefärbt.
Layla deutete auf das Spiegelbild der alten Dame. »Ich will sie.«
Gesichter spielten keine Rolle. Das hatte sie in ihrem zweiten Leben gelernt. Nur die Seele zählte.
»Damit du wieder an der Schwelle zum Tod stehst?«
Layla grinste wie eine Irre. »Eines Tages. Aber um so viele Falten zu bekommen« – sie betrachtete die runzelige Haut und die Krähenfüße um die Augen der Frau –, »all diese hinreißenden Lachfalten, muss ich dir wohl mindestens fünfzig Jahre ins Gesicht lachen.«
Der Spiegel befand sich auf der anderen Seite des Kreises, doch Layla war inzwischen verrückt genug, um zu wissen, dass Entfernungen keine Rolle spielten. Sie hob ihre rechte Faust und schlug mit aller Kraft zu. Kurz bevor sie durch den Rahmen sprang, sah sie, wie die Farbe in die Zwielichtlande strömte und
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