Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
wusste, dass Talia ihre Gedanken ganz auf Layla konzentrierte, damit ihre Gefühle ausreichend intensiv für die bevorstehende Aufgabe waren. Bitte, Kind, fühle tief in dich hinein . Die Arme zur Seite gestreckt, die Finger gespreizt, holte sie tief Luft und zerriss mit einem Schrei, einem Befehl, einem Klagen den Schleier. Aus dem Ton sprach ihr ganzer Schmerz, ihr verlustreiches Leben, die frisch geschöpfte Hoffnung, die sich sogleich wieder zerschlagen hatte. Ihre intensiven Gefühle erfüllten den Raum, und auch der Geist begann zu schreien.
Tatsächlich sammelten sich Schatten in einem magischen Strudel, einem mächtigen Sturm, der nach dem Tod rief. Das Geräusch erschütterte jede Faser seines sterblichen Körpers, was nichts Gutes bedeutete.
Der Schattenmann tauchte in das beängstigende Zentrum des Sturms ein und schwang sich über die Grenze zwischen den Welten. Doch er landete lediglich wenige Schritte entfernt von der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte.
Der Geist lachte erstickt, dann weiteten sich seine Augen vor Angst, und er verstummte abrupt.
In den dunklen Tiefen glänzte die Mondsichel. Kurz darauf erschien eine Gestalt, ein Mädchen, Zoe. Die kleine Schwester. Ihr Blick besaß nun die Tiefe des Schattenreichs, ihre Haut das seltsame Schimmern der Schattenwesen. Sie griff seine Waffe und verzog das Gesicht, während sie sich umsah.
»Oh, Mist, nein«, sagte sie, während sie Talia musterte, deren Schrei abrupt endete. »Ich komme doch nicht, wenn sie ruft.«
»Gib mir die Sense.« Der Schattenmann streckte seine Hand aus.
»Finderlohn.« Doch ihrem Charakter entsprechend tat Zoe das Gegenteil von dem, was sie sagte, und reichte ihm die Waffe mit einem gelangweilten Schulterzucken.
Er nahm die Sense entgegen und drehte den Holzgriff zwischen den Händen. Das Material und der Schaft waren stets ein Teil von ihm gewesen, jetzt fühlten sie sich seltsam fremd an. Zu schmal und leicht für ihn, er spürte keine Magie in seinen Händen. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, das ihm die wenige Kraft raubte, die er noch besaß.
Er schloss die Augen, um von vertrauter Dunkelheit umgeben zu sein. »Kannst du mir auch die Kraft geben, sie zu schwingen?«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte das Mädchen, der neue Tod, sarkastisch.
Der Schattenmann öffnete die Augen und reichte ihr die Sense zurück. Von der geringen Anstrengung pochte bereits sein Kopf. Er hatte sich der Klinge zu lange verweigert. Sie hatte in den Zwielichtlanden nach ihm geweint, ihn angefleht, sie in die Hand zu nehmen. Dafür ließ sie ihn jetzt, da er sie am meisten brauchte, im Stich.
»Weißt du, was mit Layla geschehen ist?« Als er diese Göre nach so wichtigen Neuigkeiten fragen musste, spannte sich unmerklich seine Haut. Wenn er könnte, wäre er aus ihr hinausgefahren, doch sie klebte an ihm, umhüllte ihn.
»Sie hat versucht, uns zu helfen«, erklärte Zoe spitz. »Sie hat gedacht, du würdest kommen, und als sie nach dir geschrien hat, hast du sie nicht gehört.«
Layla hatte seinen Namen gerufen. Sie hatte ihn gebraucht.
»Was ist passiert?«, zischte er.
Nun wirkte Zoes Miene sanfter, mitfühlend. »Da waren drei Schattenwesen. Das eine mit der Schere hat sie mit sich fortgezerrt.«
»Moira.« Der Schattenmann taumelte. Seine sterblichen Beine gaben nach.
»Wer?«, fragte Adam und stützte ihn mit dem Arm.
»Das Schicksal«, erklärte der Schattenmann. »Das Schicksal hat Layla in ihren Klauen.«
Das Schlimmste war geschehen.
Adam wandte sich an Zoe. »Anscheinend besitzt du jetzt seine Macht. Würdest du nach ihr suchen? Custo ist schon da. Vielleicht schickt der Orden noch weitere Engel, doch für sie ist ihre Seele nicht wichtiger als andere. Deshalb sind sie womöglich keine große Hilfe.«
Überhaupt keine Hilfe.
»Layla dürfte unter Moiras Rock sitzen«, sagte der Schattenmann. Als ob Zoe jemals das Schicksal finden konnte, ganz zu schweigen davon, dass sie die Hexe dazu brachte, ihren Rock zu lüften. »Und sie ist dabei, den Verstand zu verlieren, ihr Seelenlicht wird schwächer.«
Das war seine Schuld. Er hatte sie verflucht und sich selbst zu Machtlosigkeit in einem sterblichen Körper verdammt. Sie war ins Leben zurückgekehrt, damit genau das nicht geschah. Er war ein Narr gewesen und hatte seine Macht überschätzt.
»Layla hockt unter dem Rock des Schicksals«, wiederholte Zoe, als ob sie an seinen Worten zweifelte, und fügte mit gespielter Heiterkeit hinzu: »Na,
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