Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
erwischt, doch ihre Gedanken hatten sie verraten.
In der Menge unterzutauchen war auch nicht möglich. Mit einem Schal konnte sie die Veränderungen an Hals und Ohr nur unzureichend verdecken, und auf ihrer Wange bildete sich zudem gelbliche Hornhaut. Ihr Arm hatte bei der Auseinandersetzung auf dem Berg zwar keinen Schaden genommen, doch seine ungewöhnliche Verwandlung ließ sich jetzt nicht mehr verbergen.
Ob Mickey das störte? Nicht, wenn er sie so liebte wie er behauptete.
Kat-a-kat-a-kat-a-kat.
Ja, sie wusste, dass sie sich um andere Sachen kümmern sollte. Sie hatte versucht hineinzukommen, doch die Sicherheitsleute waren zu stark gewesen. Sechs bewaffnete Männer hatte sie erledigt, doch wäre sie noch länger geblieben, hätte man sie vielleicht getötet. Es schien ratsam, einen passenderen Augenblick abzuwarten.
Kat-a-kat-a-kat-a-kat.
Wenn das Tor doch bloß ruhig wäre, dann könnte sie vielleicht einen Plan fassen. Der Raub des Lieferwagens hatte sich als Fehler herausgestellt. Dass sie die Männer umgebracht hatte, war noch schlimmer. Jedes Mal, wenn sie ein Leben vernichtete, veränderte sich ihr Körper ein bisschen stärker.
Kat-a-kat: Folge deiner Nase.
Um eine Leiche zu finden? Wozu sollte das gut sein?
Folge deiner Nase.
Gut. Zumindest hatte sie dann etwas zu tun. Es stank dermaßen, dass es sie nicht überrascht hätte, wäre in der Luft eine orangefarbene Spur zu sehen gewesen. Während der einstündigen Wanderung durch die Wälder von Middleton nahm der Geruch an Schärfe zu. Als sie ein paar Wohnmobile erreichte, war er kaum noch auszuhalten. Die Campingwagen standen im Kreis um eine Reihe behelfsmäßiger Hütten.
Hier konnte es sich nicht nur um eine einzige Leiche handeln, das musste ein ganzer Haufen sein. Ein Massaker oder Massenselbstmord. Vielleicht hatten sie auch nur etwas Schlechtes gegessen.
Sie wollte gerade die Tür zu einem der Wohnwagen öffnen, als diese schon von allein aufging. Zuerst erblickte sie lange, spitze Haifischzähne, die jedoch aus dem aufgerissenen Mund eines Mannes ragten. Zur Verteidigung hob sie ihre böse Hand, krallte sich in die Brust des hässlichen Kerls und schleuderte ihn auf den Boden.
Als sie sich zurückzog, traten noch mehr unmenschliche Personen aus Wohnwagen und Gebäuden. Sie sabberten wie ein Rudel tollwütiger Hunde. Und Donnerwetter! Wenn einer von denen nicht über der Erde schwebte, und zwar in Einzelteilen. Sie stanken zum Himmel. Ganz offensichtlich hatte sie die Leichen gefunden.
Lebende Leichen. Keine von ihnen verfügte über einen Gedanken. In ihren Köpfen fand sich nichts. Es war als säße zwischen ihren Ohren ein Hohlraum.
Konnte es sein, dass … ? Vielleicht hatte sie das Tor direkt hierher gelotst. Das mussten die »Geister« sein, vor denen sich der Soldat auf dem Anwesen gefürchtet hatte. Diese Kerle waren der Grund für die Mauer und die Waffen.
»Freunde«, sagte sie, »bezeichnet man euch als Geister?«
Einer reagierte, indem er blitzschnell auf sie zusprang, um ihr den Kopf abzubeißen. Das war nicht nett. Sie hob ihre böse Hand und schlitzte dem Mann den Hals auf. Der Rest seines vertrockneten Körpers sank als leere Hülle auf den dreckigen Boden.
Die anderen wirkten besorgt, allerdings mehr um ihr eigenes Wohlergehen als das des Haufens aus Haut und Knochen.
»Vielleicht können wir einfach miteinander reden«, schlug Rose vor. Schade, dass sie nicht ihre Gedanken lesen konnte.
Die Geister bildeten einen Kreis um sie und schlichen mit ihren riesigen, herabhängenden Kiefern um sie herum. Der schwebende Geist wollte sie angreifen, wurde jedoch von einem der anderen aufgehalten.
Seltsam.
Schritte ertönten, als eine Frau aus einem Wohnmobil stieg und zu der Gruppe trat. Sie war jung und wirkte fast attraktiv. Dunkle Haare, ein normaler Mund, gepflegt. Sie machte einen gelassenen Eindruck und schien nicht dumm. Doch kein Parfum – und die Frau hatte eine ganze Flasche davon benutzt – konnte ihren Gestank überdecken. Auch sie war ein Geist. Vermutlich handelte es sich um die Anführerin.
»Ich bin Rose Anne Petty«, stellte Rose sich vor und streckte ihr die Hand entgegen, an der Geisterüberreste klebten.
Die Frau musterte die Leiche, dann Roses Hand. »Was bist du?«
Verwirrt ließ Rose den Arm sinken. »Wieso? Deine Freundin.«
»Bist du eine Art Engel? Engel können uns mit bloßen Händen töten.«
Rose errötete und legte ihre böse Hand auf ihre Brust. Endlich verstand sie jemand.
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