Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
legte eine Hand auf die Waffe, die griffbereit vor ihr auf dem Boden lag. Ruhig …
Sie rechnete mit einer Bewegung und machte sich auf den charakteristischen Schrei gefasst, der Ärger verhieß.
Bleib ruhig …
Doch sie hörte nur das Kat-a-kat-a-kat-a-kat des chronischen Tinnitus’ in ihrem Kopf .
Nichts. Ihr Herzklopfen ließ etwas nach.
Ein Augenblick verging. Eine Brise strich durch die herbstlichen Bäume, und die Blätter raschelten im Wind.
Noch immer nichts.
Okay. Wieder an die Arbeit. Für ein Foto von Talia Kathleen Thorne würde sie alles tun. Eine gute Aufnahme in hoher Auflösung. Ohne das war der nächste Teil ihrer Geisterserie nicht vollständig.
Layla hockte hinter dicken Bäumen verborgen im Unterholz. Hin und wieder strömte ein Adrenalinstoß durch ihre Adern. Po und Zehen waren längst taub. Sie hoffte, dass das Adrenalin ihren steifen Körper in Schwung brachte, falls sie in Schwierigkeiten geriet. Bis dahin versuchte sie, diese Möglichkeit zu ignorieren.
Das Segue Institut, tief in den Appalachen von Sweet Virginia, wirkte zu friedlich für ein Kriegsgebiet. Doch sie wusste es besser. Im Geisterkrieg gab es lange Ruhephasen, dann brach plötzlich heftige Gewalt aus. Sie würde ihr Foto bekommen, egal, ob sich Geister in den eiskalten Bergen herumtrieben oder nicht.
Kat-a-kat-a-kat-a-kat.
Layla schüttelte den Kopf. Das metallische Geräusch in ihren Ohren machte sie seit einiger Zeit verrückt. Es musste etwas damit zu tun haben, dass sie einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte, als sie in Tampa ein Video von einem angeblich leeren Geisternest drehen wollte. Leider war das Nest nicht leer gewesen.
Kat-a-kat-a-kat-a-kat.
Sie konzentrierte sich auf ihr Objekt. Obwohl die blasse Sonne direkt über dem Gebäude stand, sammelten sich Schatten um das ehemalige Hotel aus der Jahrhundertwende, das nun das Segue Institut beherbergte. Es erinnerte sie an eine Schlosszeichnung von Escher: Die Treppen der Veranda verschwanden in dunklen Schatten, aus denen geweißte Mauern auftauchten, die sich scharf von der Dunkelheit absetzten und hinter einer Biegung wiederum abrupt in der Dunkelheit verschwanden. Irgendetwas an dem Gebäude schien nicht zu stimmen. Sie grübelte darüber nach, was es sein mochte.
»Du spinnst, Layla«, sagte sie zu sich selbst. Offenbar bekam ihr das Warten in der Kälte nicht. Sie blinzelte heftig. Jetzt galt es wachsam und vernünftig zu bleiben. Keine Träumereien. Nach einer dreistündigen Wanderung war sie in der Frühe an einer unbewachten Stelle über die Mauer des Segue Instituts geklettert. Seit vier Stunden kniete sie nun schon in diesem piekenden Unterholz. Noch immer ließ sich niemand blicken, schon gar nicht Talia oder ihr berühmter Mann, Adam Thorne. The Global Insight , die Onlinezeitung, für die Layla arbeitete, verfügte in ihrem Archiv über zahlreiche Fotos von Mr. Thorne. Seine Firma, Thorne Industries, war bei wichtigen Ereignissen und Wohltätigkeitsveranstaltungen überaus präsent. Doch von Talia existierte nur ein einziges Bild. Die unscharfe Aufnahme zeigte sie in einer Gasse in Arizona, wo sie gegen einen Geist kämpfte. Man konnte ihre leicht schräg stehenden Augen und ihre ultrahelle Gesichts- und Haarfarbe erkennen, mehr nicht. Talia Kathleen Thorne war ein Rätsel, ein Gespenst – und Laylas Obsession. Wenn nötig, würde sie die ganze Nacht hierbleiben.
Neben einem Foto von Adam brauchte sie für ihre Geschichte ein scharfes Bild von Talia: den zentralen Figuren im Geisterkrieg. Bei Geistern, den Monstern der modernen Zeit, handelte es sich um normale Menschen, die zu einer neuen superstarken und überaus widerstandsfähigen Rasse mutiert waren. Wie brutale Raubtiere griffen sie ihr menschliches Pendant an, selbst alte Freunde und Familienmitglieder blieben nicht verschont. Offenbar hatte man ihre Verbreitung stoppen können, doch der Albtraum dauerte an. Alles deutete auf Segue hin, doch die Regierung hatte dem Institut ihre uneingeschränkte Unterstützung zugesichert. War Segue der Retter der Welt oder der Ursprung der modernen Plage?
Ein entferntes Flackern ließ sie wieder die Kamera heben. Sie stellte die Linse scharf.
Jemand trat aus dem Gebäude und schlenderte zu dem hohen weißen Geländer, das die großzügige Veranda umgab.
Nein. Zwei Personen. Bei der einen, einem dunkelhaarigen Mann, musste es sich um Adam Thorne handeln. Die andere wirkte so bleich, dass sie sich kaum von dem weißen Gebäude absetzte.
Ja!
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