Zwielichtlande
Blutes. Bleib.
Seufzend begab sich Annabella in die nächste Hebefigur, die Welt um sie herum drehte sich. Hatte sie nicht ihr ganzes Leben davon geträumt, sich so zu fühlen? Hatte sie nicht dafür gearbeitet und ihren Körper täglich gequält?
Bleib bei mir und tanze.
War das möglich?
Die erste Abfolge endete. Das Publikum brachte seine Begeisterung zum Ausdruck, so dass die Zweige der Bäume in den Zwielichtlanden zitterten. » Brava! Bravo!« Die Grenze zwischen den Welten bebte, wodurch die Rufe ohrenbetäubend und gedämpft zugleich klangen.
Annabella atmete tief ein und bereite sich auf ihr erstes Solo vor. Sie öffnete die Arme und vollführte eine Geste Richtung Albrecht, als würde sie ihm eine Handvoll Liebe schenken.
Der Tänzer begegnete ihrem Blick, seine Augen von Lust verhangen. Voller Schatten.
Annabella erstarrte.
Der Wolf.
Der plötzliche Schock brachte ihr wieder zu Bewusstsein, dass sie über einen Herzschlag verfügte und in der realen Welt auf der Bühne stand. Sie riskierte einen Blick zur Seite der Bühne und konzentrierte sich hinter den unzähligen Bäumen auf die Realität. Kein Engel erhellte die Schatten. Custo war weg.
Das Orchester wartete auf sie, während das Publikum sie mit tosendem Applaus bedachte.
Sie blickte zur anderen Seite der Bühne. Wo war er? Sie schaffte das nicht allein. Hatte er sie etwa im Stich gelassen?
Wieso suchst du nach ihm? Er kann dich nicht verstehen. Das verstehen.
Wie konnte Custo sie verlassen?
Tanze , flehte Wolf. Nach dem, was sie miteinander geteilt hatten, war er schlicht Wolf für sie, so viel mehr als jeder andere »Wolf«.
Seine Bitte löste in ihr den Wunsch aus, sich zu bewegen. Er deutete auf die Menge und nahm seinen Platz ein, um ihre Vorstellung anzusehen.
Aber wie konnte sie?
Du hast mich angegriffen. Wolltest mich vergewaltigen. Du hast jemanden umgebracht.
Wolf legte den Kopf schief. Ich wusste nicht, wer du bist und wie diese Welt funktioniert.
Das Publikum begann zu murmeln, man wartete auf sie.
Tanze , wiederholte Wolf. Du willst es, du willst mich.
In einer Schattenwelt, wo die Dunkelheit jede Sicherheit verdeckte, wusste sie ganz genau, dass das stimmte.
Custo beobachtete, wie Adam herumfuhr, seine Waffe hob und – begleitet von einer Kakofonie widerhallenden Lärms – den Rumpf des weiblichen Geistes durchlöcherte. Der Geist zuckte unter den mehrfachen Einschlägen und sackte dann in sich zusammen, um sich zu regenerieren.
»Was ist mit Annabella?«, schrie Adam.
Custos Glieder fühlten sich wie Gelee an, aber er schaffte es, aufzustehen und sich an der Mauer abzustützen.
Annabella.
Er torkelte zurück zum Eingang. Sie brauchte ihn. Genau in diesem Augenblick konnte der Wolf …
Sein Blick verschwamm, als sich etwas von oben auf ihn stürzte. Ein Geist. Custo verlor die Orientierung, ihm wurde schwindelig. Der Geist packte ihn, krallte sich in seine Schulter und benutzte ihn als menschliches Schutzschild.
Doch Custo war kein Mensch. Neue Kraft strömte durch seinen Körper, obwohl der Griff des Geistes an seiner Schulter brannte. Er hatte keine Zeit für diesen Mist; Annabella war allein.
Custo griff hinter sich, packte den Geist am offen stehenden Kiefer und hievte die stinkende Kreatur über seine Schulter. Mit einer weiteren ohrenbetäubenden Salve erwischte Adam das Wesen mitten in der Luft. Der Geist zappelte immer noch, als er auf den Bürgersteig krachte, deshalb beugte Custo sich vor und brach dem Mistkerl das Genick, damit er länger brauchte, um sich zu erholen. Custo wischte sich die Hände an der Hose ab, aber der widerliche Gestank blieb.
Ein anderer Geist sprang auf ein Auto, riss mit markerschütterndem Lärm, bei dem jede normale Person taub geworden wäre, die Motorhaube heraus und kam die Straße hinunter.
»Custo!«, schrie Adam.
Custo konzentrierte sich auf den neuen Geist. Mit der Kühlerhaube als Schutzschild, konnte er sehr nah an Adam herankommen. Wenn Adam keine Waffe mehr hatte, war der Kampf vorbei. Verdammt, und der Geisterkrieg wahrscheinlich auch.
Der Geist schwang die Motorhaube wie ein verformtes Frisbee in Adams Richtung. Custo warf sich in die Schusslinie, das Metall krachte schmerzhaft gegen seine Rippen, hinterließ eine blutende Wunde und zwang ihn in die Knie. Flüssiges Kupfer strömte in seinen Mund. Jeder brennende, keuchende Atemzug fühlte sich an wie der letzte eines Ertrinkenden.
Wieder hallten Adams Schüsse durch die Nacht. »Custo! Sieh
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