Zwielichtlande
nach links und rechts, um das Ensemble zu vereinen, dann verneigten sich alle gemeinsam. Sie machte eine bedeutungsvolle Geste zu ihrem Partner und würdigte seinen Part; Wolf starrte sie an, die Schatten pulsierten deutlich in seinen Augen.
Ja, ja. Er musste eben noch ein bisschen warten.
Wieder fiel der Vorhang, aber die Schreie aus dem Publikum ließen nicht nach. Eher nahm der Schattenwind noch zu. Das bedeutete weitere Vorhänge.
Ein Bühnentechniker gab von der Seite ein Zeichen, dass er die Vorhänge wieder aufziehen werde, damit sie und Wolf hinaustreten und sich noch einmal an dem Applaus laben konnten. Danke. Blumen für mich? Ein Strauß mit zwei Dutzend langstieligen dunkelroten Rosen lag auf ihrem wiliweißen Arm. Eine weitere tiefe Verneigung. Vielen Dank .
Annabella und Wolf wichen zurück, und der Vorhang schloss sich. Sie lauschte aufmerksam auf den Applaus des Publikums. Würde es noch weitere Vorhänge geben? Und wenn, wie viele? Wenn das Publikum mitmachte, würde sie sich die ganze Nacht verbeugen.
Annabella blickte zu dem Bühnentechniker und wartete auf ein weiteres Zeichen, aber Wolf packte sie von hinten und grub seine Hände in ihre Schultern. Diese albernen Männer von Segue stürmten auf die Bühne. Was hatten sie vor?
Sie brauchte noch ein paar Minuten. Hörst du denn nicht? Das Publikum wollte mehr.
Aber Wolf zerrte sie ein paar Schritte zurück, sein Atem strich heiß über ihren Nacken. Als Wolf sie mit sich in die Bäume zog, machten die Tänzerinnen ihnen Platz.
»Annabella!«, rief eine raue Männerstimme über das Tosen jenseits des Vorhangs hinweg.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich jäh auf Custo, der von der Seite der Bühne hervortrat. Er taumelte schwer atmend auf sie zu, sein Gesicht weiß und seine Stirn blutverschmiert.
Wolf knurrte in ihrem Rücken, sein Griff um ihre Schultern verstärkte sich schmerzhaft.
»Ich lasse nicht zu, dass er dir wehtut«, keuchte Annabella ihm über ihre Schulter hinweg zu. Sie sah den verwirrten Bühnentechniker mit gequältem Blick an.
»Wir müssen gehen«, raunte Wolf in ihr Ohr. »Sofort.«
»Du kannst sie nicht haben«, erklärte Custo. Sein Blick fiel auf Wolf.
Oh, das war schlecht. Sehr, sehr schlecht. Vielleicht war es an der Zeit hinüberzugehen …
»Es ist okay«, entgegnete Annabella Custo. »Ich will mit ihm gehen. Du brauchst dir um mich keine Sorgen mehr zu machen. Das ist es, was ich will.«
»Du weißt nicht, was du tust«, widersprach Custo, während er näher kam. Er breitete die Arme aus, als wenn er sie zugleich beschwichtigen und packen wollte. »Du darfst ihm nicht vertrauen.«
Wolf riss sie heftig an sich.
»Er wusste nicht, dass er jemanden verletzt«, antwortete Annabella. »Er ist nicht von hier. Er wollte mir nie etwas antun.«
»Er benutzt dich als Schutzschild.«
»Du verstehst einfach nicht.« Sie blickte zu der Öffnung zwischen den Vorhängen. Das Publikum war jetzt lauter und rechnete jeden Augenblick mit ihrem Erscheinen. Vielleicht noch einmal, wenn Custo nur den Mund halten und aus dem Weg gehen würde.
»Ich verstehe sehr wohl. Ich habe es selbst erlebt«, sagte Custo mit leiser, eindringlicher Stimme. Er krümmte sich unnatürlich nach vorn, als wenn er Schmerzen hätte. Aber wie war das möglich? Er war ein Engel. Sorgenvolle Linien bildeten sich um seine Augen und seinen Mund. »In den Zwielichtlanden kannst du nichts und niemandem trauen, vor allem nicht dir selbst.«
Wieso machte Custo ihr alles kaputt? Es war ihre Entscheidung. Ihr Leben.
»Annabella«, sagte Venroy scharf. »Was hat das zu bedeuten?«
Die Blicke der Tänzerinnen waren ebenfalls auf sie gerichtet.
Komm , sagte Wolf.
Sie musste jetzt hinübergehen. Das war die einzige Möglichkeit. Aber schade um den Applaus.
Sie blickte Custo entschuldigend an – vielleicht würde er sie eines Tages verstehen – und streckte Wolf hinter ihrem Rücken eine Hand entgegen.
»Wo ist Jasper?«, fragte Custo.
Jasper? Annabella spürte, wie er ihre Hand ergriff. Aber nein, das war ja Wolf. Aber Jasper presste seinen Körper gegen ihren; Jaspers Stimme bat sie, mit ihm zu gehen. Das konnte nicht stimmen. Jasper war schwul und liebte seinen Partner; er hatte sie nie begehrt. Es musste Wolf sein. Aber Wolf hatte behauptet, dass er niemandem etwas angetan hatte. Dann musste die Hand, die sie hielt, Jasper gehören. Aber er knurrte wie Wolf. Doch wo war Jasper? Er hielt ihre Hand.
Annabellas Kopf schmerzte. Sie konnte nicht klar
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