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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Kellison
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denken. Das musste aufhören.
    Aufgebracht blickte Venroy zu den dreien und schob Myrtha hinaus, um den Applaus entgegenzunehmen. »Was ist hier los?«
    Custo machte eine entschiedene Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. Venroy murmelte etwas von Sicherheitsdienst und verschwand.
    »Genau, Annabella«, sagte Custo eindringlich. »Wo ist Jasper, dieser hübsche Junge, der gern mit seinen Muskeln prahlt, damit sie jeder sehen kann?«
    In ihrem Kopf blitzte ein Bild auf – von Jasper in einer typischen Pose. Wann immer er sie zum Lachen bringen oder ihr die Nervosität nehmen wollte, schob er mit einem anzüglichen lustigen Grinsen seine Hüfte nach vorn, um seinen Körper voll zur Geltung zu bringen. Der echte Jasper, der mit ihr stundenlang zusätzlich geprobt hatte, bis der Pas de deux vollkommen war. Der von heißem Sex mit vielen Partnern geredet hatte, aber seit mehr als drei Jahren seinem Geliebten treu war. Wo war er?
    Wenn sie nur einen Augenblick klar denken konnte, würde sie vielleicht alles verstehen. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie konnte nicht herausfinden, was. Sie wusste nur, dass ihre Träume im Schattenreich real waren, ebenso das Tanzen , aber was wäre sie für ein Mensch, wenn sie nur an sich selbst dächte? Was war mit Jasper?
    Als sie sich von Wolf losriss, fühlte es sich an, als würde sie in der Mitte auseinandergerissen.
    Custo schoss vor, schob sie aus dem Weg und stürzte sich auf Wolf, der aufschrie.
    Als ihr der beißende Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase stieg, fiel sie hin. Es stank wirklich übel. Der Schmerz des Aufpralls beförderte sie zurück in die Wirklichkeit und wischte den magischen Schimmer des Schattenreichs von ihren Augen. Irgendeiner von diesen Schlägern aus Segue packte sie und hielt sie zurück.
    »Nein, noch nicht, Annabella! Bewahre den Zauber!«, schrie Custo.
    Aber ihre Muskeln verkrampften sich, ihre Knochen schmerzten, und mit ihrem Nacken stimmte etwas nicht. Als sie unsanft aus ihrem märchenhaften Hoch in der Realität landete, stieß sie die Luft aus, und mit ihr entwich die letzte körperliche Euphorie. Sie fühlte sich müde und alt. Was war los mit ihr?
    Vor ihr fand eine heftige Prügelei statt. Sie hob den Blick. Custo packte Wolf, aber in Gestalt von Jasper. Der Gestank nahm den unangenehmen Geruch verbrannter Haare an. Die Kontrahenten rollten auf den Vorhang zu und verfingen sich mit ihren Körpern im Samt.
    Als Myrtha sich nach der letzten Verbeugung langsam von der Bühne zurückzog, wäre sie beinahe über die beiden gestolpert.
    »Anna«, keuchte Custo, »hol den Zauber zurück! Wir brauchen die Schatten!«
    Wie? Das Atmen schmerzte. Ihr fehlte die Energie zu weinen. Sie hatte keine Magie mehr in sich. Annabella sah, wie die Tänzerinnen des Ensembles aufgeregt schnatterten, konnte sie aber nicht hören. Was erwartete Custo von ihr – sollte sie wieder aufstehen und tanzen? Sie glaubte nicht, dass sie aufstehen konnte.
    Und außerdem flüsterte eine leise heimtückische Stimme in ihr, dass sie keine zweite Chance mehr bekam, die Grenze zu überschreiten, wenn sie half, Wolf zu verbannen.
    Heftig kämpfend rollten Custo und Wolf auf die offene Bühne. Die Zuschauer hielten hörbar den Atem an. Vereinzelte Schreie verrieten ihr, dass die beiden soeben in den Orchestergraben gefallen waren. Als ein metallisches Klirren ertönte, zuckte sie zusammen, und in ihren Ohren klingelte es.
    Sie senkte den Kopf und fing an zu weinen. Als Adam kam, zog der Mann aus Segue sie auf die Füße und zerrte sie von der Bühne.
    »Im Orchestergraben«, erklärte der Kerl, der sie aufrecht hielt, während ein anderer schrie: »Macht den Weg frei!« Aber sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach und was sie taten. Und es war ihr auch egal. Sie versuchte mit aller Kraft, Halt zu finden, aber die Realität glitt ihr aus den Fingern.
    Die Zwielichtlande befanden sich außer Reichweite. Custo verprügelte Wolf auf offener Bühne. Und Jasper war weg. Sowohl ihr Leben als auch ihre Träume lösten sich gerade in nichts auf.
    Annabella verließ sich nicht darauf, dass es sich hier um Stimmungsschwankungen handelte. Sie hatte gerade die Vorstellung ihres Lebens gegeben. Sie wusste, so glücklich sie auch vor kaum zehn Minuten gewesen war, das Tief würde nicht lange auf sich warten lassen. Was hatte sie denn gedacht? Es war naiv zu glauben, diese Art der Euphorie währe für immer. Und sie wusste, dass sie noch nicht am Tiefpunkt angelangt war. Nicht annähernd.

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