Zwielichtlande
Turm lokalisiert habe. Das könnte etwas aufwendiger sein.«
Adam nickte. »Ich muss gehen. Ich kann die Geister schon fast von hier riechen.«
»Ich rufe dich an, wenn ich etwas weiß«, antwortete Custo. Er würde vermutlich die ganze Nacht mit seinem Geist durch die Stadt streichen und nach jenen glockenklaren Gedanken suchen, an der eine Gruppe von Engeln zu erkennen war.
So wollte er seine letzte Nacht eigentlich nicht verbringen.
Adam verließ sie, als sich der Flur gerade mit Leuten zu füllen begann. Custo zog die Tür zu und schloss ab – keine Gratulanten für Annabella – , dann drehte er sich zu ihr um, um zu sehen, wie weit sie gekommen war.
Sie hatte es geschafft, den Großteil der weißen Schminke sowie die spinnenhaften Wimpern aus ihrem Gesicht zu entfernen. Sie hatte sich in einen Morgenmantel gewickelt, doch an einem weißen Stoffbüschel an ihrem Knie erkannte er, dass sie darunter immer noch ihr Kostüm trug. Diese ganzen Haken und Ösen waren zu viel für sie, und sie hatte sicher niemanden um Hilfe bitten wollen.
»Wir bringen dich zurück nach Segue und stecken dich ins Bett«, sagte er.
Sie nickte und strich sich mit der Hand über das Gesicht. Dennoch sah er, wie sie das Gesicht verzog, als müsste sie weinen. Sie stand auf und zog den Morgenrock aus, damit Custo ihr aus dem Kostüm helfen konnte.
Während er mit seinen riesigen Händen die winzigen Haken öffnete, überlegte er, was er sagen sollte. Es erschien ihm zwecklos, ihr zu erklären, dass sie für Peters Tod nichts konnte. Sie würde erwidern, dass er nur tot war, weil der Wolf sie gewollt hatte. Vielleicht hätte sie sich vergeben können, wenn es ihnen gelungen wäre, den Wolf am Ende der Vorstellung zurück in die Zwielichtlande zu drängen, aber der Versuch war fehlgeschlagen.
Er musste es noch einmal anders versuchen.
»Vor fünf Jahren – nein, warte, es sind jetzt sieben Jahre«, sagte Custo so neutral wie möglich. Er wollte kein Mitleid. »Es war nach den ersten Auseinandersetzungen im Geisterkrieg. Da hatte es ein internationaler Waffenhändler auf Adams Kopf abgesehen.« Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und sprach weiter: »Ich habe ihn zuerst erwischt.«
Annabella riss die Augen so weit auf, dass Custo im Spiegel das gesamte Weiß um die Iris herum sehen konnte.
»Sein Name war Heinrich Graf. Ich habe seine Tochter dazu verführt, mir sein Reiseziel zu nennen, und dann gehandelt. Aber der erste Schuss ging daneben und erwischte einen unschuldigen Passanten. Ich habe auf offener Straße einen Arzt ermordet. Der zweite Schuss traf Graf. Adam weiß nichts davon. Ich war zu … feige , es ihm zu sagen.«
»Wieso erzählst du mir das?«, krächzte Annabella.
Er löste den letzten Haken, dann stand die Rückseite ihres Kostüms offen. »Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass ich diese Menschen eigenhändig umgebracht habe. Du hast niemandem etwas getan.«
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich hätte ihn heute Nacht aufhalten können.« Meine Schuld .
»Wir finden einen anderen Weg. Du kennst dich jetzt besser.« Custo drehte Annabella zu sich herum.
Sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Ich habe Schmerzen beim Atmen.«
»Versuche, daran zu denken, dass du heute Abend wundervoll warst. Nein, schüttele nicht den Kopf. Mach nicht schlecht, was du erreicht hast.«
»Es waren die Schatten … es war Magie.«
»Annabella, das warst du . Das warst alles du.« Custo griff ihre Hand. Wenn er ihr sonst nichts mehr geben konnte, bevor er am Morgen weg musste, wollte er zumindest, dass sie begriff, wie stark sie war. »Der Wolf kannte keine Choreografie . Er hat seine Hinweise allein aus deiner Fantasie bekommen.«
»Er wollte zurück«, sagte Annabella. Aber jetzt will er auch mich.
»Ich kann ihm nicht verübeln, dass er dich mitnehmen wollte.« Custo ballte die Hände zu Fäusten und erinnerte sich daran, wie der Wolf unter seinen Händen gebrannt hatte. »Dein Talent, deine Gabe, ist fantastisch.«
»Du hattest so recht, als du gesagt hast, ich dürfte mir nicht trauen. Ich kann es wirklich nicht.« Sie hob ihr Kinn und begegnete seinem Blick. Ihre Augen funkelten, ihre Gedanken flehten Bitte, hass mich nicht. »Ich wünsche mir die Magie, mit der er mich lockt, so sehr, dass ich in einem schwachen Moment wieder darauf hereinfallen werde. Selbst jetzt würde ich gern die Magie der Schatten spüren.« Mit ihm gehen. »Du musst mir versprechen, dass du das nicht
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