Zwielichtlande
einfach. Sie drehte sich wieder um, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und machte sich im Geist eine Notiz, dass sie ihre Mutter anrufen musste, sobald sie sich wieder in Segue befanden. Ihre Mutter war bestimmt außer sich, weil sie sie gestern Abend nach der Vorstellung im Theater verpasst hatte.
»Hör auf, ihn Wolf zu nennen«, meldete sich Custo von der Rückbank. »Das macht mich verrückt. Namen verleihen Macht. Gib ihm nicht noch mehr davon.«
Gut. Der Wolf. Was war mit dem Plan?
»Deine Strategie funktioniert nur, wenn sowohl der Wolf als auch die Geister sich vorhersehbar verhalten. Davon gehe ich aber nicht aus. Das ist nicht in ihrem Interesse. Der Wolf wird versuchen, sich auf anderem Weg Zugang zu dir zu verschaffen. Und die Geister wissen jetzt, dass es noch andere gibt, die sie töten können. Da sie von Natur aus aggressiv sind, werden sie nicht davonlaufen und sich verstecken, sondern zuerst angreifen. Und zwar heftig. Wenn wir ihnen voraus sein wollen, müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen.«
Okay, Mist. Annabella sah ihn über ihre Schulter hinweg an und fragte: »Und was?« Dann fuhr sie herum, um sich am Armaturenbrett festzuklammern, weil Adam eine plötzliche Kehrtwende machte.
»Abigail«, erklärte Adam. »Sie kann Talia zwar nicht helfen, aber vielleicht ist sie in der Lage, Annabella zu sehen.«
»Mich zu sehen?«, fragte Annabella. Adam redete Unsinn.
»Sie ist … «, hob Adam an, »Ich weiß nicht, was sie ist. Eine Visionärin? Ein Medium? Ein Orakel? Jemand, der wie du von der Magie der Schatten berührt wurde, aber auf andere Art. Die Schatten wallen in Abigails Körper; die Dunkelheit wabert in ihren Augen, als würde in ihrem Kopf ein Sturm herrschen. Das hat ihre Alterung beschleunigt und sie Jahrzehnte ihres Lebens gekostet. Sie kann die Zukunft voraussagen oder was sie so Zukunft nennt, denn jede Entscheidung hat Einfluss auf den Lauf der Dinge.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, ob sie helfen kann. Das letzte Mal hat sie meine Zukunft vorausgesehen, und ich war nicht in der Lage, irgendeine verdammte Sache daran zu ändern.«
Adam wirkte so unglücklich, dass Annabella nicht wusste, ob sie wirklich erfahren wollte, was damals geschehen war.
»Es ist zwei Jahre her«, sagte Adam mit rauer Stimme.
Als Custo gestorben war.
Okay, Custo ging es jetzt gut, und Annabella hatte genug von ihm und der Weltuntergangsstimmung. Noch mehr Dramen, und sie wurde verrückt. Noch mehr Angst, und sie fing an zu schreien. Noch mehr Custo, und sie konnte nicht mehr.
Ein bisschen Essen wäre auch nicht verkehrt. Sie spürte, wie ihr Blutzuckerspiegel sank. An einem normalen Tag wäre sie dadurch nur etwas gereizt. Bei dem ganzen Wahnsinn sollten die starken Männer sich besser in Acht nehmen.
»Vielleicht«, sagte sie stur, »sieht diese Abigail meinen Namen in Leuchtschrift über einem Theater stehen, größer geschrieben als der Name meines jetzigen Balletts. Vielleicht mit dem Wort unvergleichlich in kursiv daneben. Oder vielleicht atemberaubend ?« Jetzt redete sie nur mit sich selbst. »Jedenfalls ist es das, was ich sehe, wenn ich an meine Zukunft denke.«
Adam sah sie humorlos an.
»In riesiger Leuchtschrift«, fügte sie für die Spaßbremse hinzu.
Sie weigerte sich, noch einmal über ihre Schulter zu Custo zu blicken, obwohl sie ihn wie eine wärmende Sonne auf ihrer Haut spürte. Sie konnte sich unmöglich gegen das Gefühl schützen, also hielt sie den Blick auf die Straße gerichtet und konzentrierte sich auf die weißen Nummernschilder mit den blauen anagrammähnlichen Buchstaben und Nummern. TIK konnte Trick bedeuten und SFR für Surfer stehen und EGL für eigentlich, aber nicht für Engel. Sosehr sie sich auch dagegen wehrte, Lust und Liebe hatten sie im Griff. Und sie wusste, dass das genauso gefährlich war wie das Schattenwesen, das ihr an den Fersen klebte.
Die widersprüchlichen Gefühle für Custo machten sie verrückt und verlangten nach einer Ausnahme von ihrer Nur-einmal-im-Jahr-Käsekuchen-Regel. Sie brauchte so bald wie möglich ein Stück. Und zwar mit Schlagsahne. Sie musste einmal über die Stränge schlagen, so wie das Ballett es nur selten zuließ.
Adam hielt vor einem dreistöckigen Haus, das zwischen ähnlichen Gebäuden in einer ziemlich heruntergekommenen Straße stand. Eine Gegend, in der sie sich bereits am helllichten Tag unwohl fühlte. Über den Backsteinen hing ein grauer Schleier, nur die Tür war knallrot
Weitere Kostenlose Bücher