Zwienacht (German Edition)
war es fünf vor neun. Er ging vorsichtig – das Schwindelgefühl war noch immer nicht ganz abgeklungen – ins Schlafzimmer und schaute aus dem Fenster.
Der rote Fiat parkte vor dem Haus.
Richard kramte ein Pfefferminzbonbon aus einer Schublade und steckte es sich in den Mund, ehe er im Flur auf den automatischen Türöffner drückte.
Er war im ersten Moment überrascht, dass sie bereits vor seiner Wohnungstür stand, aber dann fiel ihm ein, dass Maria einen Schlüssel für die Haustür besaß. Vermutlich war die alte Frau in der Etage über ihm gar nicht in der Lage den Türöffner zu bedienen.
Maria Couto dos Santos strahlte ihn an. In der rechten Hand trug sie einen kleinen schwarzen Koffer, die linke streckte ihm den Hammer entgegen. Richard bemerkte, dass sie dezentes Make-up aufgetragen hatte.
„Guten Morgen“, sagte Maria und sofort legte sich ihre Stirn in Falten. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen so aus, als würden Sie sich nicht besonders fühlen.“
„Ich habe nicht so gut geschlafen“, erwiderte er und dachte, dass er sich schon gar nicht mehr daran erinnern konnte, wie es ist, überhaupt richtig zu schlafen.
Sie musterte ihn jetzt genauer. Mit dem professionellen Blick einer Frau, die mit physischen und psychischen Probleme bestens vertraut war. Richard fühlte sich unwohl und war froh, als sie wieder lächelte und ihm den Hammer in die Hand drückte.
„Ich habe mir einen eigenen besorgt. Eine Reparatur haben wir zurzeit nicht im Budget. Der Pflegedienst gehört meiner Freundin und wir zwei kommen gerade mal so über die Runden.“
Richard nickte und hörte sich mit einer Stimme sagen, die für ihn fremd und unbeholfen klang: „Vielleicht möchten Sie auf eine Tasse Kaffee hereinkommen.“
„Klar! Deshalb bin ich ja extra etwas eher gekommen.“
Er führte sie in die Küche. Richard hatte vergessen, den Abwasch zu machen und so stapelte sich das schmutzige Geschirr der letzten Woche im Spülbecken. Maria schien das nicht zu stören. Sie sah sich neugierig um und deutete auf die Poster und gerahmten Bilder an den Wänden. Auf allen waren nordeuropäische Landschaften abgebildet.
„Hier ist es Ihnen wohl noch nicht kalt genug“, bemerkte Maria mit einem Kopfnicken in Richtung eines Posters, das eine verschneite Tundra zeigte.
„In Skandinavien ist alles so weit und ruhig.“ Er schüttete ihr einen Kaffee ein.
„Was machen Sie dann in Döbeln?“, fragte sie und hielt den Becher mit beiden Händen, so als wollte sie sich wärmen. „Dass Sie kein Sachse sind, hört man.“ Sie grinste ihn verschmitzt an. „Außerdem glaubt Frau Ahrens, dass Sie nicht arbeiten. Sie hat eine ziemlich altmodische Vorstellung vom Arbeiten. Man geht morgens früh aus dem Haus und kommt verschwitzt am Abend zurück.“
„Ich bin Schriftsteller“, sagte Richard und bereute die Offenheit, kaum dass er den Satz ausgesprochen hatte.
Die Frau schien nicht überrascht. „So was habe ich mir schon gedacht. Und was schreiben Sie? Vielleicht kenne ich eines Ihrer Bücher.“ In ihrem Gesicht entstanden lauter kleine Grübelfältchen. „Obwohl ... Richard Gerling ... der Name sagt mir nichts.“
„Ich schreibe eigentlich auch nur so wissenschaftlichen Kram“, log er. „Im Moment zum Beispiel über den Nationalsozialismus in Mittelsachsen. Speziell über den Widerstand.“
„Aha“, machte sie und Richard konnte ihre Enttäuschung spüren. Er erwartete die Standartfrage, wenn man sich als Autor geoutet hatte, aber von ihr kam kein „Und davon kann man leben?“
„Das wird Frau Ahrens interessieren“, sagte sie stattdessen. „Sie war schon im Weltkrieg überzeugte Kommunistin. Sie sollten sich mal mit ihr unterhalten.“
„Gern.“ Richard nippte am heißen Kaffee und fühlte sich etwas besser.
„Ich brauche aber noch ein paar Informationen“, sagte Maria. „Dass Sie Schriftsteller sind, wird Frau Ahrens nicht genügen.“
Richard hatte das Gefühl, dass Maria ihre Patientin nur vorschob, um selbst mehr über ihn zu erfahren. Ihr Interesse an seiner Person schmeichelte ihm.
„Ich bin in Duisburg geboren.“ Das war eine weitere Lüge. Er hatte, abgesehen von einem Abstecher in den Achtzigern nach West-Berlin, sein ganzes bisheriges Leben in Unna verbracht, aber er war wie immer darauf bedacht, seine Spuren zu verwischen. „Seit langem geschieden, keine Kinder.“ Das entsprach der Wahrheit. Eine Wahrheit, die ihr zu gefallen schien, denn sie lehnte sich entspannt zurück und
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