Zwienacht (German Edition)
auftreten. Daher bringen manche Ärzte die Probleme häufig nicht mit dem Blitzschlag in Verbindung.“
Dr. Busch verstummte kurz und sah zum Fenster, das nicht viel breiter als eine mittelalterliche Schießscharte war. Ein großer Vogel hatte sich auf dem Sims hinter der Milchglasscheibe niedergelassen. Er wirkte beinahe wie ein Scherenschnitt.
Der Psychiater runzelte die Stirn, als würde ihm der Anblick missfallen, dann seufzte er und fuhr fort. „Die akuten Folgen eines Blitzschlags wie Herz- und Atemstillstand entstehen dadurch, dass die extreme Stromstärke die elektrische Kontrolle der Muskelkontraktion für das Herz und das Atemsystem durcheinander bringen. Aber wenn der Strom durch das Gehirn fließt, können verschiedenste Hirnregionen zerstört werden. Der menschliche Körper ist nun mal ein hervorragender elektrischer Leiter.“ Er sah Richard direkt in die Augen. „Sie sprachen von akuten Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Gedächtnisproblemen.“
Richard nickte eifrig.
„Ich glaube, dass ihr Zustand in der Tat von dem Blitzschlag hervorgerufen wird.“
„Was kann man dagegen tun?“, fragte Richard. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der schwarze Vogel mit den Flügeln flatterte und dann davonflog. „Regeneriert sich das Gehirn?“ Seine Finger krallten sich in den Kunstlederbezug der Liege.
„Möglich“, erwiderte Dr. Busch. „Jedenfalls sind Ihre Symptome ganz typisch. Manchmal kommt es sogar zum Verlust des Geschmacks-, Geruchs- oder Tastsinns. Und wenn der Frontallappen des Hirns geschädigt wurde, kann sich die gesamte Persönlichkeit eines Menschen verändern. Der Betroffene zeigt infantiles Verhalten, wird depressiv oder aggressiv.“
„Was ist mit Wahnvorstellungen?“, platzte es aus Richard heraus. Er wischte seine schweißnassen Hände an den Hosenbeinen ab und hatte das Gefühl, auf den Schlund eines schwarzen Lochs zugeschoben zu werden, in dem alle furchtbaren Dinge, die er sich nur ausmalen konnte, auf ihn lauerten. Etwas in seinem Innern wollte vor Entsetzen laut aufschreien.
„Haben Sie Wahnvorstellungen?“ Dr. Busch sah ihn besorgt an.
Richard zögerte. „Ich ... ich glaube nicht.“
„Gut.“ Der Blick des Psychiaters hellte sich nicht auf. „Nach allem, was ich in Erfahrung gebracht habe, sind sie aber nicht auszuschließen.“
„Das heißt, es ist damit zu rechnen, dass ich verrückt werde.“ Seine Stimme klang schrill.
„Dazu werden wir es nicht kommen lassen.“ Dr. Busch holte einen Zettel aus seiner Hosentasche hervor und reichte ihn Richard. „Das ist Ihr Termin für die Hirn-Tomographie in Dresden. Die genaue Adresse habe ich aufgeschrieben. Von meiner Sprechstundenhilfe bekommen Sie später noch die Überweisung. Leider ist der Termin erst in drei Wochen. Eher ging es auf keinen Fall.“
Richard steckte den Zettel ein und fühlte sich wie betäubt. „Können Sie mir helfen?“, fragte er.
„Ich denke schon“, erwiderte Dr. Busch. „Vorausgesetzt Sie sind von nun an ehrlich zu mir.“
Richard erschrak und spürte wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Was meinen Sie damit?“
„Sie erzählten mir, dass Sie nach dem Blitzschlag in Unna in einem Krankenhaus ambulant behandelt wurden. In Unna gibt es zwei Krankenhäuser. In beiden war ein Richard Gerling unbekannt. Daraufhin habe ich im Internet recherchiert. Schließlich wird nicht alle Tage jemand in einer westfälischen Kreisstadt vom Blitz getroffen. Schon gar nicht unter solch spektakulären Umständen. Es gab schließlich einen Toten und Sie trugen an jenem Vormittag auf dem Schulhof einen Lederslip und ein Halsband, Herr Kenning.“
Richard zuckte bei der Erwähnung seines abgelegten Namens zusammen. „Ich musste aus Unna verschwinden und woanders untertauchen. Das konnte ich nur unter einem neuen Namen. Die Namensänderung war in meinem Fall kein Problem.“
„Und Sie glaubten wirklich, in Döbeln würde Sie niemand erkennen? Sie sind ein relativ bekannter Schriftsteller. Es existieren Fotos von Ihnen im Internet. Gut, Sie haben sich die Haare wachsen lassen und tragen eine Brille, aber Sie bleiben trotzdem Richard Kenning.“
Richard warf dem Psychiater einen durchdringenden, flehenden Blick zu. „Sie werden mich doch nicht verraten?“
„Sie sind mein Patient. Alles, was wir miteinander besprechen, bleibt in diesen Räumen.“
Richard richtete sich mit einem Gefühl der Erleichterung auf. Wenn sich nur alles, was ihm in den letzten Monaten widerfahren war, so einfach aus
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