Zwienacht (German Edition)
umschloss, erklang die Musik. Ein Schlager, so banal, dass er wohl auf immer in die Nachtstunden verbannt würde.
Das Radio im Schlafzimmer! Richard atmete erleichtert aus. Er wollte gerade seine Hand von dem Messergriff lösen, als ihm einfiel, dass er das Radio ausgeschaltet hatte. Gerade, als für Mittelsachsen fünf Grad maximale Tagestemperatur und Nieselregen vorausgesagt wurde.
Im Flur war es dunkel. Kein Licht drang mehr aus dem Schlafzimmer.
Er versuchte die Vorgänge von vorhin genau zu rekapitulieren: Risse in der Wand untersucht, Radio ausgeschaltet, Bademantel aus dem Schrank geholt, Schlafzimmer verlassen, um dann festzustellen, dass er vergessen hatte, das Licht auszuknipsen.
Oder war es genau andersherum gewesen?
Er starrte auf die Klinge in seiner Hand. Automatisch hatte er sie aus dem Messerblock gezogen.
Richard schlich in den Flur. Er schaltete nicht das Licht ein. Wenn sich jemand in seiner Wohnung befand, wollte er den Moment der Überraschung auf seiner Seite wissen. Die Musik wurde bei jedem Schritt lauter. Das Lied mit dem synthetischen Mitklatschrhythmus stand im krassen Gegensatz zu dem Gefühl der Angst, das Richard umklammerte. Er glaubte, sich bei jeder seiner Bewegungen durch zähen Sirup kämpfen zu müssen.
Die Tür zum Schlafzimmer stand weit auf. Dahinter war es stockfinster. Richard lauschte. Er hörte nur einen Refrain, in dem sich ganzes Glück auf bestes Stück reimte und spürte den eigenen Herzschlag. Er stellte sich einen Fremden vor, der in der Dunkelheit verharrte und nach irgendeiner Reaktion von ihm lauschte.
Richards Hand tastete nach dem Lichtschalter für die Deckenlampe. Er hielt den Atem an. Erwartete, dass ein Arm aus der Schwärze mit der Schnelligkeit einer Schlange hervorschoss, um nach ihm zu greifen.
Klick!
Der Raum wurde in warmes, gelbliches Licht getaucht, das keine Schatten zuließ. Richard sah sich nach allen Seiten um, spähte unter das Bett, ohne irgendjemanden zu entdecken.
Seiner Kehle entrang sich ein glucksendes Geräusch. Er musste kichern und ganz weit hinten in seinem Verstand bildete sich ein beängstigender Gedanke: Werde ich verrückt?
„Unsinn!“ Das Wort hallte einen Moment in seinem Kopf nach. Er war nur angespannt, bekam zu wenig – Nein! Eigentlich gar keinen Schlaf! – und das führte dazu, dass man Kleinigkeiten vergisst und Dinge verwechselt. Vermutlich hatte er das Radio gar nicht ausgeschaltet, dafür die Deckenlampe im Schlafzimmer. Richard versuchte seine Gedanken zu ordnen. Aber da war doch der Lichtschein im Flur gewesen ...
Und als er am Küchentisch saß und in die Kerzenflammen starrte, da hatte er weder Stimmen noch Musik aus dem Radio wahrgenommen.
Oder doch?
Fakt ist, sagte sich Richard, dass kein Eindringling das Radio einschalten würde, um auf sich aufmerksam zu machen.
Richard spürte, wie er panisch wurde.
Alles ist in Ordnung, versuchte er sich einzureden. Aber der Mahner in seinem Kopf vertrat eine andere Meinung. Sie lautete: Du verlierst die Übersicht! Es ist der Blitz. Er hat dich damals nicht getötet. Aber was jetzt folgt, ist vielleicht viel schlimmer. Du bist ein weiteres Treppchen emporgeklettert zu deinem Ziel. Und dieses Ziel heißt Wahnsinn! Wie findest du das?
Richard presste die Hände auf die Ohren und stöhnte laut auf. Er zwang sich ruhig und gleichmäßig zu atmen, dabei bemerkte er, dass der Geruch von Schimmel allgegenwärtig war.
Um Punkt Acht rief Richard in Dr. Buschs Praxis an. Er wollte seinen nächsten Termin unbedingt vorverlegen. Letzte Nacht hatte er lediglich nicht mehr gewusst, ob er das Radio aus oder das Licht eingeschaltet hatte und war daraufhin mit einem Messer durch die Wohnung geschlichen. Wie würde sich sein Zustand weiterentwickeln? Kamen Nächte mit Spukgestalten auf ihn zu? Oder würde er irgendwann versuchen, die eigene Hand zu amputieren, weil sein verrückt gewordener Verstand sie als Feind identifiziert hatte?
Zu seiner Überraschung erhielt er sofort einen Termin. Er konnte schon in einer Dreiviertelstunde vorbeikommen. Richard wusch sich und beschloss ausnahmsweise seinen Wagen zu benutzen, weil er nicht verschwitzt und atemlos bei Dr. Busch erscheinen wollte. Er wollte wenigstens äußerlich „normal“ wirken, denn wenn er sein Erscheinungsbild vernachlässigte, sagte er sich, wäre ein weiterer, Riesenschritt in Richtung Dachschaden getan.
Sein VW Golf parkte direkt vor dem verwahrlosten Nachbargebäude. Auf der anderen Straßenseite stand
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