Zwienacht (German Edition)
eher das Gefühl völlig ausgebrannt zu sein. Meine Batterien sind leer. Ich muss einfach nur schlafen.“ Er beobachtete, wie sich der unterste Knopf von Dr. Buschs Hemd löste und geräuschlos zu Boden fiel.
„Wir werden daran arbeiten“, sagte der Psychiater. „Kehren wir aber zunächst zu Ihrer Schriftstellerei zurück. Wie haben Sie recherchiert?“
Es war Richard unangenehm über ein Thema zu reden, das er für sich so gut wie möglich verdrängt hatte. „Nun ... es stimmt. Ich habe in der Tat die Nähe jener Menschen gesucht, über die ich geschrieben habe.“
„Jemanden wie den Reisenden?“ Buschs Interesse schien echt.
„Nein.“ Richard winkte ab.
„Aber Sie meinen Straftäter, Mörder?“
„Ja. Ich machte Lesungen in Justizvollzugsanstalten mit Sicherheitsverwahrung. Ich war auch in der geschlossenen Forensik. Dort traf ich Satanisten, die in ihrem Wahn Menschen geopfert hatten oder auf Psychopathen, die Spaß daran hatten, Frauen zu filetieren.“
„Was haben Sie dabei empfunden?“
Richard erinnerte sich an Applaus, Gelächter und daran, dass sich einige der Insassen hinterher bei ihm für die Lesungen bedankt hatten. „Die meisten wirkten so wie jeder andere Mensch. Aber mir war immer klar, mit wem ich es da zu tun hatte.“
„Waren Sie fasziniert?“, fragte Busch.
„Niemals!“ Richard sah den Psychiater erschrocken an. „Wie könnte ich von einem Mörder fasziniert sein.“ Er war so fassungslos, dass er einen Moment brauchte, um die richtigen Worte zu finden. „Ich ... ich habe Gewalt ... Mord nur als Mittel der Dramaturgie benutzt. Ich habe nie für Gewaltfetischisten geschrieben. Der Kontakt zu Mördern diente nur der Authentizität.“
Der schwarze Vogel war zurückgekehrt. Er strich mit einer Schwinge über die Milchglasscheibe und verursachte dabei ein leises, schabendes Geräusch. So, als würden zwei Seiten Papier aneinander gerieben. Richard verspürte den Drang gegen die Scheibe zu klopfen, um den Vogel zu verscheuchen.
„Sind Sie bei Ihrer Recherche jemals einem Individuum wie dem Serientäter in Der Reisende begegnet?“
„Nein“, erwiderte Richard. „Der Reisende ist reine Fiktion.“
„Er beging das perfekte Verbrechen, weil er scheinbar kein Motiv hatte ...“ Busch sah zum Fenster. „... außer seinem Wahn“, beendete der Psychiater seinen Satz.
Der Reisende 3
„Die halten mich für einen Langeweiler!“ Zutiefst beleidigt fegte ich die Zeitung vom Tisch.
Drei von ihnen hatte ich bereits geimpft. Alle waren sie männlich und unter dreißig gewesen. Von dieser Sorte liefen nun mal die meisten zu später Stunde allein durch die Gegend. Strotzend vor Selbstbewusstsein und im Glauben, stark genug für die Dunkelheit zu sein.
Die Polizei nahm an, ich sei fixiert auf diese Personengruppe. Dabei machte ich keinen Unterschied zwischen Alter oder Geschlecht. Ich musste impfen und ging dabei gerecht vor. Jedes Individuum, das sich so leicht aus dem Leben pflücken ließ, war es nicht wert zu existieren. Meine Aufgabe war es, die Starken am Leben zu lassen. Jeder, der mir widerstand, war erlöst.
Ich ging zum Fenster und beobachtete den Strom der Passanten.
Zwei Dinge mussten von mir berücksichtigt werden.
In Zukunft würden die Impfungen in allen Altersgruppen vorgenommen. Die Schwachen waren sehr breit gestreut. Zum anderen blieb mir nichts anderes übrig, als ihnen das Geld abzunehmen. Lange hatte ich mit mir gehadert, verstieß das doch gegen meine Prinzipien und degradierte mich in der Öffentlichkeit zu einem simplen Raubmörder. Aber schließlich ging es hier nicht um Selbstbereicherung, machte ich mir klar. Ich benötigte nun mal finanzielle Mittel für meine Mission. Allein die Bahnfahrten kosteten ein Vermögen.
Außerdem spielte es überhaupt keine Rolle, was das Menschenvolk von mir hielt. Es war bis auf wenige Ausnahmen dumm. Statt nach Vollkommenheit zu streben, degenerierte es immer mehr.
„Es ist beschlossen!“, sagte ich laut und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.
Ich wählte eine Kleinstadt nahe der holländischen Grenze aus und nahm sogar zweimaliges Umsteigen in Kauf.
Es regnete, als ich in der früh einsetzenden Dämmerung den Ort erkundete. Am Rande einer Neubausiedlung fand ich, was ich suchte. Das noch nicht erschlossene Bauland wurde von asphaltierten Feldwegen durchzogen. Bäume und dichte Sträucher schützten vor Wind und Einblick.
In der Ferne erkannte ich die Silhouette eines Spaziergängers.
Schon wieder
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