Zwienacht (German Edition)
Frau im weißen Kittel legte ihm die Hand auf die Schulter und wirbelte ihn herum. Ihr Griff war fest. „Sie sind wohl völlig übergeschnappt, Freundchen!“ Ohne den Griff an seiner Schulter zu lockern, streckte sie ihm ihre linke Hand entgegen. „Autoschlüssel her!“
Richard öffnete den Mund zu einer Erwiderung.
„Am Ende fahren Sie in Ihrem Zustand noch jemanden über den Haufen. Herr Sandow hat gesagt, dass Sie sein Nachbar sind. Meine Kollegin Maria hat in Ihrem Haus eine Kundin. Sie wird Ihnen morgen früh um neun den Schlüssel vorbeibringen.“ Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Widerspruch zu. Außerdem fiel es Richard ohnehin schwer, einer Frau im weißen Kittel zu widersprechen.
„Die gute Frau hat Recht. Kommen Sie, Herr Gerling.“ Sandow ließ seinen Dackel ganz sachte zu Boden. „Plaudern wir unterwegs ein wenig.“
Die frische Luft tat ihm gut. Richard fühlte, wie sein Gang sicherer wurde und die Kopfschmerzen zu einem stetigen, aber ertragbaren Pochen in seiner Stirn schrumpften. Als sie in die Straße des Friedens einbogen, hielt Sandow kurz inne und drückte sich in einen Hauseingang. Mit flinken Bewegungen, die Richard dem alten Mann gar nicht zugetraut hatte, zückte Sandow einen Flachmann aus silbern glänzendem Metall. Er nahm einen tiefen Schluck und ließ den Flachmann wieder in seiner Manteltasche verschwinden.
„Medizin“, sagte er und zwinkerte Richard zu. „Ich würde Ihnen ja auch einen Schluck anbieten, aber vielleicht sollten wir damit lieber noch etwas warten.“
Richard lächelte verkrampft.
Sandow dämpfte seine Stimme. „Meine Frau braucht das nicht zu wissen.“
„Natürlich nicht.“ Richard hatte mit Sandows Gattin bis auf einen kurzen Gruß noch nie ein Wort gewechselt.
Sie gingen langsam weiter. Der Dackel schaffte nur eine äußerst geringe Geschwindigkeit, zudem blieb er ständig stehen und schnüffelte an Hauswänden und Laternen.
Richard empfand es als angenehm, dass sich sein Nachbar überhaupt nicht für ihn zu interessieren schien. Sandow redete ausschließlich über sich selbst, seine frühere Arbeit bei der Post und über seinen Hund Basti, der seinen Schilderungen zufolge intelligent genug sein musste, um jederzeit das Abitur nachzuholen. Basti hielt unterdessen die Nase gesenkt, schnüffelte und hob hin und wieder mühsam das Bein, um zu pinkeln.
„Ich habe Sie gestern früh mit Krüger und dem dicken Münzberg aus dem ersten Stock auf der Straße gesehen“, sagte Sandow unvermittelt. Als Richard nicht sofort reagierte, fügte Sandow „Krüger ist der von gegenüber. Der mit den Waffen.“ hinzu.
„Münzberg glaubt, dass dieser Krüger seinen Kater getötet hat.“
„Was!“ Sandow blieb so abrupt stehen, dass der Dackel gegen seine Beine stieß und verwundert zu seinem Herrchen aufsah. „Krüger hat den kleinen Pauli umgebracht!“ Sandow hatte den letzten Satz so laut ausgesprochen, dass ein junger Mann auf der anderen Straßenseite erstaunt zu ihnen herübersah. Richard legte eine Hand auf Sandows Arm und brachte ihn mit leichtem Druck dazu weiterzugehen.
„Wie hat Krüger den Kater getötet?“ Richards Nachbar war außer sich.
„Es ist nicht sicher, dass es Krüger war“, beschwichtigte Richard. „Es gibt keinerlei Beweise.“
„Wie?“, beharrte Sandow.
„Wir fanden nur den Kopf des Katers.“
Sandow blieb erneut stehen. Seine Augen wurden ganz groß.
„Aber für mich sah es nicht so aus, als hätte man den Kopf abgeschlagen.“
Sandow sah ihn verständnislos an.
„Der Kopf schien eher abgerissen oder ... abgebissen worden zu sein.“
Der alte Mann hörte ihm überhaupt nicht zu. „Also, wenn das jemand mit meinem Basti macht ... den Kerl würde ich auch umbringen.“ Er bückte sich und streichelte dem Hund über den Kopf. „Nicht wahr, Basti. Der Pauli war so ein feiner Kerl. Ihr zwei wart doch richtige Freunde.“
„Glauben Sie, dieser Krüger wäre wirklich zu so etwas fähig?“, fragte Richard.
Sandow sah zu ihm auf. Seine Augen waren feucht. „Er ist ein Eigenbrötler, ein Miesepeter. Es heißt, er war früher ein ganz scharfer Hund bei der NVA. Ich sage nur: Fallschirmjägerbataillon. Vor ein paar Jahren ist dann seine Frau ganz plötzlich gestorben. Danach ging die Spinnerei mit den Waffen richtig los. Würde mich nicht wundern, wenn er seine Frau selbst um die Ecke gebracht hat.“
Richard sagte nichts. Sandow nahm seinen Hund auf den Arm, als befürchtete er, Krüger könnte jeden Moment mit
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