Zwilling verzweifelt gesucht
Rabuschs Sohn. Jack Rabusch hat nämlich schwarze Locken und dunkelbraune, fast schwarze Haut.
Ich sitze seit einer halben Stunde auf einem unbequemen, grell orangefarbenen Plastikstuhl vor der Eisdiele im Einkaufszentrum und warte darauf, dass mein Ebenbild einmarschiert. Ich habe kein Eis gegessen, nur einen Saft getrunken, damit mein Geld für eine zweite Bestellung ausreicht. Aber ich kann auch einfach nur hier sitzen. Mindestens drei Viertel der Stühle sind leer. Draußen verdunkelt sich der Himmel. Für heute sind Gewitter angesagt. Hier drin bemerkt man nichts davon. Die Besucher taumeln durchs Geglitzer und die täglich gleiche Klimaanlagen-Luft, die so frisch ist, dass eigentlich niemand ein Eis essen muss.
Ich fand das Einkaufszentrum bis heute ziemlich cool, weil es so viele verschiedene Geschäfte darin gibt, so viel zu essen, überall Musik und Glitzer und Lichter. Aber heute fühle ich mich überhaupt nicht wohl. Es ist, als säße ich unter einer Käseglocke. Als würde sich ein Riese über diese Käseglocke beugen und mich ansehen. Ich bin eine Maus in einem Experiment und warte auf meine Zwillingsmaus – und der Forscher, der sich das alles ausgedacht hat, beugt sich über mich und spricht leise in sein Diktiergerät. Ich wage gar nicht aufzusehen. Vielleicht blickt mich durch die Glaskuppel des Einkaufszentrums ein kaltes blaues, riesiges Brillenauge an. Ich schüttle mich, dann sehe ich auf die Uhr.
Mara ist unpünktlich. Das kommt in unserer Familie vor. Finn und Fabian werden immer unpünktlicher. Papa ist sehr pünktlich. Mama und ich sind mittelpünktlich, bei Jule und Jana und den Babys kann man darüber noch nichts sagen. Mara scheint den Familienrekord zu halten.
Ich rufe Alisias Nummer an, aber sie geht nicht ans Telefon. Als ich mein Handy gerade wieder einstecken will, klingelt es. Schnell gehe ich dran.
„ Ja? “
„ Hier ist Mara. Tut mir leid. Ich kann nicht kommen. “
„ Was? Warum denn nicht? “
„ Meine Mutter … ich musste noch … es ist kompliziert. Ich musste noch was machen. “
Ich hole tief Luft. Das kann doch nicht wahr sein. Was kann es denn Wichtigeres geben, als seinen eigenen Zwilling kennenzulernen? Ich versuche, sie nicht anzuschreien. Er macht keinen Sinn, sich mit einer Schwester zu streiten, die man noch gar nicht kennt. Das kann man sich für später aufheben.
„ Und jetzt? Kommst du später noch? “
„ Nein. “ Mara klingt verdruckst. „ Geht nicht. Können wir uns ein andermal treffen? “
Ich könnte jetzt ablehnen, einfach nach Hause gehen und die Sache vergessen. Kann ich natürlich nicht.
„ Schlag was vor “ , sage ich müde. Ich habe keine Lust, jetzt auch noch nachdenken zu müssen.
„ Kannst du am Freitag? “
„ Warum erst am Freitag? “
„ Ich habe vorher keine Zeit. Freitagnachmittag, wieder in der Eisdiele. “
„ Ich hab kein Geld mehr “ , bocke ich.
Sie zögert.
„ Dann am Ludwigsplatz? Bei den Elefantenfüßen? “
„ Wo? “
Sie lacht leise. „ Da steht doch so ein komisches Kunstwerk. Sieht aus wie verschlungene Elefantenfüße. “
Ja, ich weiß, was sie meint. „ Okay. Dann bis Freitag. “
„ Bis Freitag. “
Ich schalte aus und atme tief durch. Plötzlich riecht das ganze Einkaufszentrum unerträglich nach altem Fett und künstlichem Käse und nassen Mänteln. Ich zahle ganz schnell. Die Rolltreppe bewegt mich viel zu langsam. Ich schiebe mich an den stehenden Menschen vorbei und rase ins Freie. Die Luft ist schwül, die Wolken hängen tief, ein elektrischer Wind wirbelt Papier und Plastiktüten über den gepflasterten Platz. Aber hier ist es viel leiser als im Einkaufszentrum. Da drin können sie nämlich ganz dringend den Krawallator gebrauchen.
Bis Freitag ist es noch lange hin. Heute Abend sind wir im Fernsehen. Na ja – ich meine – die anderen sind im Fernsehen. Ich hätte mir die Sendung gerne mit meiner Zwillingsschwester angesehen, aber daraus wird wohl nichts. Ich müsste sie eigentlich anrufen und ihr sagen, dass sie ihre Geschwister schon mal begutachten kann, aber ich bocke weiterhin. Sie soll warten, ich habe nun auch gewartet. Ich werde vor dem Fernseher sitzen, mit diesem vertrauten Gefühl im Bauch, als eine, die nicht dazugehört, für die sich niemand interessiert, als eine unvollständige Hälfte, als hätte ich nur ein Bein und ein Auge und halb so viele Haare, praktisch also eine Halbglatze … denn der Teil von mir, der mich vollständig macht, sitzt immer noch
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