Zwillingsbrut
ihrem Verhalten Kacey gegenüber nicht das kleinste bisschen verändert.
Dennoch hatte sie das ungute Gefühl, soeben in einer nahezu verheilten Wunde zu stochern, die bei erneutem Aufbrechen eitern und vielleicht sogar tödlich sein würde.
Als »Hark! The Herald Angels Sing« in der Version eines ihr völlig unbekannten Countrystars ertönte, stellte sie das Radio ab. Sie musste in Ruhe nachdenken, was genau sie nun tun sollte. Hatten Jocelyn Wallis, Shelly Bonaventure oder Elle Alexander den Verdacht gehegt, von demselben Mann gezeugt worden zu sein? Hatten sich ihre Mütter alle mit ein und demselben Lokal-Romeo eingelassen?
Wie standen die Chancen dafür?
Zutiefst erschöpft versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen und sich auf die Heimfahrt zu konzentrieren.
Der Verkehr um diese späte Tageszeit war dünn; die Straßen waren beinahe schneefrei, obwohl ab und an ein paar Eiskristalle funkelten, wenn der Mond die dünne Wolkendecke durchbrach. Kacey war immer noch tief in Gedanken versunken, als ihr ein noch geöffneter Coffee-Drive-in, keine zehn Meilen vor dem Stadtrand von Grizzly Falls, ins Auge fiel. Sie fuhr von der Straße ab, hielt an, ließ ihr Fenster herunter und bestellte einen fettarmen, entkoffeinierten Latte macchiato bei einer Frau, die zum Umfallen müde aussah. Der Geist der Weihnacht war an diesem Stand vorbeigezogen, trotz der bunt blinkenden Lichterketten, den Schneeflocken an den Fenstern und dem weihnachtlichen Zimt-Latte aus dem Angebot.
Sie wartete im Wagen auf ihre Bestellung und hoffte, dass die dampfende Milch ihren Magen beruhigen würde. Als ihr Latte macchiato fertig war, nahm sie den heißen Becher dankbar entgegen und gab ein Trinkgeld. Mit der Andeutung eines Lächelns schloss die Barista das Fenster, dann schaltete sie das Neonschild aus.
Kacey kostete und wünschte sich, der Latte würde sie ein wenig von innen her erwärmen. Sie konnte die Heizung in ihrem kleinen Geländewagen noch so hoch stellen: Das Frösteln, das sich in ihrer Seele breitmachte, seit sie die Wahrheit erfahren hatte, ließ sich nicht so leicht vertreiben.
Gerade als sie wieder auf die Straße biegen wollte, sah sie Scheinwerfer auf sich zurasen, hielt den Becher von sich weg und trat auf die Bremse. Der Edge blieb stehen, und ein großer dunkler Pick-up zog mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei. Kaffee schwappte gegen den Becherdeckel.
Schlagartig kam ihr der Pick-up mit dem gewaltigen Kühlergrill in den Sinn, der ihr die Beule in den hinteren Kotflügel gefahren hatte. Grace Perchant hatte behauptet, der Fahrer sei »böse«.
Kacey drängte die Erinnerung an jenen Abend beiseite, erwachte aus ihrer Starre und trank den Kaffee ab, der sich im Deckelrand gesammelt hatte.
Grace war nicht unbedingt die glaubwürdigste Person, wenn man bedachte, dass sie behauptete, mit Geistern sprechen zu können.
Außerdem fuhr fast jeder in Montana einen Pick-up.
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ob sie dem Wagen folgen sollte, um zu sehen, ob er ein Nummernschild aus einem anderen Bundesstaat mit einer Drei oder einer Acht darauf hatte, doch da klingelte ihr Handy. Auf dem Display erschien Trace’ Nummer. Eli ging es schlecht; sein Fieber war auf über vierzig Grad Celsius gestiegen, und sein Husten hatte sich verschlimmert. Augenblicklich konzentrierten sich all ihre Gedanken auf den Jungen.
Kaum zwanzig Minuten später traf sie auf dem leeren Parkplatz der Poliklinik ein. Auf dieser Seite des Gebäudes war es ziemlich dunkel, der einzige Lichtschein kam von einer Straßenlaterne vor dem rückwärtigen Eingang.
Kacey ließ ihren leeren Kaffeebecher im Getränkehalter stehen, sperrte den Wagen ab und ging zur Hintertür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf und drückte auf den Lichtschalter.
Klick.
Nichts geschah.
Sie versuchte es noch einmal, doch es blieb dunkel, nicht einmal die Sicherheitsbeleuchtung ging an. In den Räumen war es kälter als sonst.
Dieser verdammte Sicherungsschalter!
Am liebsten hätte sie diesem zwielichtigen Geizkragen von Vermieter den Hals umgedreht! Wie oft hatte sie sich schon beschwert? Einmal hatte sie sogar selbst den Elektriker gerufen.
»Na großartig«, murmelte sie.
Natürlich kannte sie sich im Gebäude aus, und natürlich bewahrte sie seit diesen Vorkommnissen eine Taschenlampe in ihrer Schreibtischschublade auf, also tastete sie sich durch den hinteren Gang, an den Behandlungszimmern vorbei, die ihr heute irgendwie
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